Wissenssoziologie. Hubert Knoblauch

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Wissenssoziologie - Hubert Knoblauch

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bzw. Derivationen (also Ableitungen). Man hat es nach Pareto mit Derivationen zu tun »immer dann, wenn man sein Augenmerk darauf richtet, auf welche Weise die Menschen danach streben, die Merkmale, die bestimmten ihrer Handlungsweisen eigen sind, zu verbergen, zu verändern, zu erklären.«92 Zwar hat auch das Tier Instinkte, doch nur der Mensch »empfindet das Bedürfnis zu argumentieren und außerdem einen Schleier über seine Triebe und seine Gefühle zu breiten«.93 Als Derivationen bezeichnet er den »Komplex von Argumenten und Handlungen, mit denen das nicht-logische Handeln als logisches präsentiert wird«.94

      Derivationen sind keineswegs Mystifizierungen oder gar Betrug, da sie von den Menschen in der Regel selbst geglaubt werden. Derivationen sind vielmehr jene pseudo-logischen Argumentationen, mit denen Handlungen, wie Freud sagen würde, »rationalisiert« werden. Sie setzen sich aus Trugschlüssen und Illusionen, Glauben, Vorurteilen und Fehlurteilen zusammen, mit denen menschliches Handeln häufig verknüpft ist. Ihre Überzeugungskraft besteht weniger in der logischen Schlüssigkeit als im Appell an Gefühle. Im Unterschied zu Freud jedoch verdanken sie sich selbst nicht den Gefühlen, sondern dem sozial eingespielten Gemeinsinn, auf den auch die Rhetorik zurückgreift. Ein Beispiel dafür sind »Wortbeweise«, die durch die Wahl einzelner Worte entschieden werden. Im Falle des Verharrens im eigenen Glauben nennt man dies »›Standhaftigkeit‹, wenn [es] häretisch ist, ›Verstocktheit‹. Ein anderes Beispiel dafür: Im Jahre 1908 nannten die Freunde der russischen Regierung, wenn sie einen Revolutionär töteten, ihr Vorgehen ›Exekution‹, das der Revolutionäre, wenn sie ein Regierungsmitglied töteten, ›Mord‹. Die Feinde der Regierung kehrten die Bezeichnungen um: das erste Vorgehen war ›Mord‹, das zweite ›Exekution‹.«95

      Diese Derivationen gliedert Pareto in vier Klassen auf. Zum Ersten nennt er die Behauptungen, die Geschichten mit großer oder geringer Überzeugungskraft beinhalten können. Sie rechtfertigen aufgrund der bloßen Affirmation. Zum Zweiten finden sich Argumente, die auf Autorität beruhen (wenn man etwa die Bibel zitiert). Die Anrufung einer Autorität dient als Rechtfertigung. Übereinstimmungen mit Gefühlen und Prinzipien bilden die dritte Klasse der Derivationen, zu der auch der Common Sense gehört. Man bezieht sich auf ein Prinzip oder ein Gefühl, um eine Handlung zu begründen. Und schließlich führt er noch das schon angeführte Beweisen mit Worten an, also Begründungen, die auf ungenauen Wörtern, auf Sprichwörtern, Metaphern, Allegorien oder Analogien aufbauen.

      Während die Residuen das Handeln leiten und recht konstant bleiben, wirken sich die Derivationen nicht unmittelbar auf das soziale System aus. Zudem verändern [62]sie sich mit dem soziohistorischen Kontext. Die Residuen determinieren die Derivationen, doch haben auch diese Einfluss auf die Residuen.96 Die Derivationen gehorchen also dem, was man heute wohl eine »Rhetorik« nennen würde, wie sie typischerweise innerhalb der Wissenschaft zu finden ist.

      In Paretos Wissenssoziologie bilden die im engeren Sinne ideologischen Systeme einen weiteren Schwerpunkt, da sie direkt auf den Derivationen und Residuen aufbauen. Denn die Verwandlung von nichtlogischen in logische Handlungen gelingt vor allem durch Berufung auf moralische, religiöse und metaphysische Theorien und Lehren. Ideologien sind also keineswegs identisch mit Derivationen; Ideologien sind selbst selten Teil von Handlungen und auch nicht unbedingt emotional, ja verhüllen Emotionalität eher. Weder den Derivationen noch den Ideologien geht es um die Wahrheit, sondern nur um Wirksamkeit und Nutzen. Die Wirksamkeit wird durch die Frage bestimmt, warum Menschen an ein bestimmtes geistiges Gebilde glauben. Sie bemisst sich daran, was sie davon haben. Auch Weltanschauungen, wie etwa das Christentum oder der Sozialismus, sollten deshalb nicht auf ihre Wahrheit hin befragt werden, »der Wert der heiligen Bücher aller Religionen liegt nicht in ihrer historischen Präzision, sondern in den Gefühlen, die sie im Herzen ihrer Leser erwecken können«.97 Gesellschaften sind nicht rational, sondern werden durch Ideologien und Mythen geleitet und verändert. Jeder Versuch der Wissenschaft, diese Mythen zu entzaubern, schafft nur selber wiederum neue Mythen.

      Wie Marx blickt auch Pareto auf eine sozialstrukturelle Größe, die wesentlich für die Ideologien verantwortlich ist: Sind es bei Marx aber die proletarischen Massen, so stehen bei Pareto die Eliten im Vordergrund. Gesellschaftliche Fortentwicklung kommt für ihn im Wesentlichen durch den Kampf der Eliten um die Macht zustande, der zu einem Kreislauf der Eliten führe. »Selbst im tiefsten Frieden kommt der Prozess der Zirkulation der Eliten nicht zum Stillstand; sogar die Eliten, die durch den Krieg keine Verluste erleiden, verschwinden und manchmal geschieht dies ziemlich rasch. Es handelt sich nicht nur um den Untergang der Aristokratien durch das Übergewicht der Todesfälle über die Geburten, sondern auch um den inneren Verfall der Elemente, aus denen sie sich zusammensetzen.«98 Dabei zeigten sich immer zwei Kräfte: zentripetale Eliten, die die Zentralgewalt stärken, und zentrifugale Eliten, die ihre Auflösung anstreben.

      Die Eliten sind gleichsam die wissenssoziologisch relevanten Akteure, denn in der Auseinandersetzung der Eliten spielen die Residuen und Derivationen eine entscheidende Rolle. Dies ist natürlich besonders in der politischen Rhetorik der Fall, die sich ja durch ihre persuasive Absicht von der philosophischen Abhandlung unterscheidet. Denn sie dient zur Durchsetzung von Machtinteressen, die vor allem von den Eliten verfolgt werden. Sie bilden, neben den politischen Intellektuellen, die [63]wichtigsten Trägergruppen der politischen Kommunikation. Herrschende Gruppen und Gegeneliten befinden sich im Kampf um die Macht, der, sozusagen als Derivat, immer auch ein Kampf der Ideen ist. Die verschiedenen Gruppen nutzen jedoch nicht nur Ideen, sie verkörpern und interpretieren immer auch unterschiedliche Residuen der Gesellschaft. Es sind also nicht nur »Scheingefechte«, die über Residuen ausgetragen werden, sondern auch Kämpfe zwischen den zugrunde liegenden Prinzipien.

      Durch die Zirkulation der Eliten ändern sich Ideologien und Derivate fortwährend. Allein wenn man hinter sie blickt, entdeckt man die eigentlichen Beweggründe, die Residuen. Weil die menschliche Natur über die Geschichte hinweg im Wesentlichen gleich bleibt, ändern sich auch die Residuen nicht über die Zeit. Doch auch die ansonsten sehr wandelhaften Derivate enthalten einen festen, konstant bleibenden Kern und veränderliche symbolische Ränder. Diesen Kern hält Pareto für universale geistige Strukturen. Sie sind die eigentlichen Residuen, wie etwa der Totemglaube, Heiligenanbetungen, Askesepraktiken. Diese mentalen Strukturen, die Pareto in verschiedene Klassen unterteilt, bilden für ihn eine Art vortheoretische Ordnung des Bewusstseins – eine Ordnung des verborgenen Wissens, der wir in der Wissenssoziologie unter verschiedenen Begriffen immer wieder begegnen.

      Eine Fortsetzung über Pareto hinaus erfährt der wissenssoziologisch relevante Irrationalismus durch die Arbeit von Georges Sorel, dessen wissenssoziologischer Beitrag vor allem um den Begriff der Mythen kreist.99 Im Unterschied zur gängigen Vorstellung, die diesen Begriff mit archaischen Erzählformen verbindet, bezeichnet er damit eine Art politisches Wissen der Straße. Geiger fasst Sorels Verständnis dieser Mythen als »Ideologien, die sich auf die Gesellschaft beziehen«.100 Die Menschen benötigen ein orientierendes Gesamtbild der Gesellschaft. Weil ein wirkliches Abbild jedoch nur unter großen Mühen hergestellt werden könnte, hält sich der Durchschnittsmensch lieber an verzerrte Mythen. Würde die Kenntnis der wirklichen Verhältnisse lähmend wirken, so förderte die begrenzte Einseitigkeit der Mythen die Bereitschaft zur Handlung. Auch gesellschaftliche Bewegungen, die von Gesellschaftstheorien geleitet sind, finden in der Masse nur dann Resonanz, wenn sie einen mythologischen Gehalt aufweisen. »Je weniger Wahrheit und je mehr Mythos, desto besser.«101 So wirkt etwa der Mythos vom Generalstreik für die Arbeiter nicht aufgrund von materialistischen Erklärungen im Rahmen der marxistischen Theorie, sondern deswegen, weil er in eine bildhaft komprimierte Version gebracht wird, die eine Menge zu einer Gemeinschaft zusammenschweißt und sie zu kollektiven Handlungen bewegt. Vom Urchristentum bis zur französischen Revolution sei jeder Versuch der Massenmobilisierung von solchen Mythen ausgegangen.

      Die Tragweite seines Ansatzes wie auch der anderer wissenssoziologisch relevanten Irrationalisten wird in jüngerer Zeit wieder sehr deutlich. Denn seit dem Ende der [64]1970er-Jahre breitet sich eine ausdrücklich irrationalistische Vernunftkritik sehr stark aus, die die Vernunft und den Glauben an

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