Wissenssoziologie. Hubert Knoblauch

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Wissenssoziologie - Hubert Knoblauch

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wie biologische Anpassung. Variationen der sozialen Formen sind für ihn durch natürliche Veränderungen determiniert. Die wichtigsten Formen der sozialen Anpassung sind technisch und ideologisch, wobei ideologische Anpassungen von technischen determiniert seien. Eine andere deterministische Fassung stammt von Otto Bauer, der seine empirische Interpretation der Genese von Weltanschauungen auf Marx zurückführte. Weltanschauungen seien vor allem von der Arbeitserfahrung des Menschen bestimmt. Bürger in kapitalistischen Gesellschaften zeichneten sich durch eine gemeinsame Arbeitserfahrung aus, die vor allem im Planen von Arbeit besteht, die andere verrichten. Deswegen entwickeln sie eine Weltanschauung, in der ein umfassender Plan enthalten ist, wie im Idealismus. Die Arbeiter dagegen hätten eine Arbeitserfahrung, die sie in unmittelbaren Kontakt mit der materiellen Natur bringen. Deswegen sei ihre Weltanschauung materialistisch.72

      Solch deterministische Konzeptionen werden von Remmling dem »positivistischen« Zweig des Marxismus zugeschrieben. Sie gelten dem anderen, »historizistischen« Zweig als »vulgärmarxistisch« – ein Vorwurf, der sicherlich eine große Zahl der späteren marxistischen Literatur treffen dürfte.73 Zu diesen Historizisten zählt etwa die Theorie Georg Lukács’, an den wiederum eine ganze marxistisch orientierte Linie der Diskussion anschließt, die wir im Zusammenhang mit der kritischen Theorie wieder aufnehmen werden. Der Frage nach dem Verhältnis von Basis und Überbau, also das Thema der Korrelation von Wissen und Gesellschaft, die in beiden Linien aufgeworfen wird, werden wir im Folgenden immer wieder begegnen.

Die Triebe und der Irrationalismus des Wissens

      Im Großen und Ganzen gehen die geschichtsphilosophisch angelegten Konzepte, wie die oben dargestellten, von der Annahme einer steten Fortschreitens der Vernunft und der Ausweitung des menschlichen Wissens aus. Diese Annahme bildet das Fundament des westlichen Fortschrittsglaubens, den die Aufklärung begründete und der zum Allgemeinwissen geworden ist. Gegen diese Vorstellung zunehmender Rationalität regte sich jedoch schon im Zuge der Aufklärung massiver Widerstand von Seiten der konservativen, antiaufklärerischen Denker (in Deutschland etwa Justus Möser, der den hiesigen Konservativismus begründet), die sich für den Erhalt der traditionellen Strukturen einsetzten. Die Kritik wandte sich vor allem gegen die Annahme der Vernünftigkeit des Menschen, die als Motor den Fortschritt der menschlichen Vernunft antreiben sollte. Im Widerspruch dazu behauptete eine Reihe von Intellektuellen die grundlegende Unvernünftigkeit, den Irrationalismus des Menschen. Vernunft und Wissen erscheint für sie bestenfalls aufgesetzt. Für die Wissenssoziologie sind diese Intellektuellen deswegen von besonderer Bedeutung, weil sie den naiven Glauben an die schlichte Gültigkeit von Wissen und Wahrheit angreifen (der noch unsere »Wissensgesellschaft« beherrscht). Und obwohl sie die Quelle allen Tuns in nichtsozialen Trieben verankern, sehen sie darüber hinaus die vermeintliche Geltung von Wissen nicht in der Erkenntnis selbst begründet, sondern in sozialen Prozessen, in denen der Schein von Wahrheit erzeugt wird.

      Einen entscheidenden Beitrag zur Prägung dieses Irrationalismus lieferte Friedrich Nietzsche.74 Er hebt vor allem die Rolle der Triebe hervor: Die Menschen schaffen sich eine künstliche Ideenwelt hinter der Erscheinungswelt, weil sie ihre ureigensten niederen Triebe übertünchen wollen. Diese Triebe bilden die eigentliche Grundlage der Erkenntnis, denn erst ihre Konfrontation mit der Wirklichkeit bringt Erkenntnis hervor, ja erzwingt sie. Wissen ist folglich nicht schon Teil der menschlichen Natur. Es folgt aus dem Trieb und ist Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisses: »Wenn wir Erkenntnis wirklich begreifen wollen, wenn wir wirklich wissen wollen, was sie ist, wenn wir ihre Wurzel und Fabrikation erfassen wollen, müssen wir uns vielmehr an den Politiker halten und uns klarmachen, dass es sich um Verhältnisse des Kampfes und der Macht handelt.«75 Wissen besteht also nur in Handlungen, in denen Menschen sich Dinge gewaltsam aneignen und auf [56]Situationen reagieren.76 Wahres Wissen ist »somit nicht etwas, das da wäre und das aufzufinden, zu entdecken wäre – sondern etwas, das zu schaffen ist und das den Namen für einen Prozess abgibt […] es ist ein Wort für den ›Willen zur Macht‹.«77

      Deswegen stellen falsche Urteile für den Menschen ebenso wenig ein Problem dar wie falsches Wissen. Ganz im Gegenteil: Die Vorstellung, es gebe so etwas wie Wahrheit, ist in Nietzsches Augen ein kolossaler Irrtum. Erkenntnis ist für ihn nämlich keine bestehende Größe, sondern eine Erfindung. Denn »der Gesamtcharakter der Welt ist […] in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Notwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit[…]«78 Die Menschen begehen diesen Irrtum, um sich in Sicherheit zu wähnen. Die Wahrheit selbst ist nur für die wenigen Gelehrten von Interesse. Für die breite Masse der Menschen dagegen ist allein das Wissen von Bedeutung, das lebensfördernd wirkt. Die »Wahrheit« ist somit eine Verkleidung des »Willens zur Macht«, jener Kraft, die uns am Leben erhält und unseren Bestand sichert. Die eigentliche Funktion des Geistes ist die Verstellung des Lebens so, dass es uns lebenswert erscheint, und die Verführung zum Leben.

      Wahrheit und Wissen sind jedoch nicht nur eitle Hülle. Denn was den Menschen auszeichnet, ist dass er gegen sich selbst, gegen seine Triebe und seinen »Willen zur Macht« Stellung beziehen kann. Die Instanz nun, die es ihm ermöglicht, sich gegen seinen Ursprung aus der Natur und gegen seine naturhafte Determination zu wehren, ist der Geist, der Wissen schafft. Durch seine Fähigkeit der Verkleidung kann er eine »Umwertung der Werte« bewirken, die in die Dekadenz, zum endgültigen Zerfall führen kann: Weil der Mensch schlecht ist, schafft er die Idee des Guten, weil er lügt, schafft er die Wahrheit, weil er hässlich ist, schafft er das Schöne. »Will jemand ein wenig in das Geheimnis hinab- und hinuntersehen, wie man auf Erden Ideale fabriziert? […] Diese Werkstätte, wo man Ideale fabriziert – mich dünkt, sie stinkt vor lauter Lügen.«79 Jede Gesellschaft hat in seinen Augen eine herrschende und eine beherrschte Schicht. Den beiden Schichten sind zwei verschiedene Moralen zugeordnet: die »Herrenmoral« und die »Sklavenmoral«.

      Besonders »verlogen« erscheinen Nietzsche jene Wissensformen, die die grundlegende Machtbeziehung bestreiten. Das Christentum ist ihm dafür ein sehr wichtiges Beispiel, betont es doch die Nächstenliebe und verleugnet es den Machttrieb. Genau hierin jedoch, so betont Nietzsche, liegt das Perfide des Christentums: Es predigt eine Religion der Schwachen, Kranken und Armen, Machtlosen – um genau [57]damit an die Macht zu kommen und sich an der Macht zu halten. Die Religion der Nächstenliebe ist ihm eine Übertünchung von Machtinteressen.

      So geht Nietzsche mit dem Hinweis auf den Zusammenhang von Religion und Machtinteressen über einen psychologischen Ansatz des Wissens als bloß subjektiver Projektion hinaus, den er in seinen früheren Schriften vertritt und schließt an die Interessentheorie an: Religiöse Vorstellungen dienen dazu, die Interessen derer durchzusetzen, die sie vertreten. Das Christentum ist ihm eine Religion des Ressentiments der Schwachen gegen die Starken. Weil die Schwachen und Zukurzgekommenen Träger dieser Religion seien, komme der Erfolg des Christentums einem ›Sklavenaufstand der Moral‹ gleich. Er entspreche somit einer ›Vergeltungsreligiosität‹, die die Starken und Erfolgreichen bestrafe, einem, wie Nietzsche es nennt, Ressentiment. Max Scheler, der den Begriff später aufnimmt, definiert das Ressentiment als eine »seelische Selbstvergiftung«, die durch eine »systematisch geübte Zurückdrängung von Entladungen gewisser Gemütsbewegungen und Affekte entsteht […] und die gewisse dauernde Einstellungen auf bestimmte Arten von Werttäuschungen und diesen entsprechenden Werturteilen zur Folge hat«.80 Die Zurückdrängung der vornehmen Werte durch das Ressentiment hat sich in einem historischen Prozess abgespielt, der vom antiken Rom bis zur Reformation und zur französischen Revolution reicht. In dieser Zeit wurden Ideale verbreitet, die den Menschen Schuld und schlechtes Gewissen einredeten, mit denen die Triebe unterdrückt werden sollten. Diese Ideale entfalteten eine »ungeheure Macht«, indem sie ein System der Interpretation errichteten, mit dem erst das festgestellt wurde, was Wahrheit sei.

      Man kann sich dennoch fragen, mit welchem Grund Nietzsche, der ja als Verächter der (positivistischen) Soziologie gilt, hier in der Ahnenreihe der Wissenssoziologie auftritt.81 Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen spielt Nietzsche eine bedeutende Rolle in den wissenssoziologischen

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