Wissenssoziologie. Hubert Knoblauch

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Wissenssoziologie - Hubert Knoblauch

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räumt zwar ein, dass es in allen Epochen positive Wissenschaften gegeben habe. Im Grunde hätte es lediglich eine Periode gegeben, in der nur eine Denkweise vorherrschte – eben der Fetischismus. Die Vorherrschaft einer Denkweise werde erst wieder mit dem Positivismus erreicht. Allerdings vollziehe sich die Entwicklung der Wissenschaften nicht in allen Disziplinen gleichzeitig. So habe schon zu Comtes Lebzeiten die Mathematik den höchsten Grad an Positivität erreicht, gefolgt von der Astronomie. Auf die Physik folge die Chemie und die Biologie bzw. Physiologie. Erst dann sei die Soziologie an der Reihe. Denn die Soziologie habe es (im Vergleich zu den anderen Wissenschaften) mit dem wohl komplexesten Gegenstand zu tun: der Gesellschaft. Ihre besondere Stellung leite sich aus der Breite der Methoden ab, mit der sie arbeitet. Genüge der Mathematik noch die Logik, so bedürfe die Mechanik oder die Geometrie zusätzlich der Beobachtung. Bei der Physik werde überdies zusätzlich das Experiment erforderlich; die Klassifikation komme bei der Chemie dazu und der Vergleich bei der Biologie. Die Soziologie schließlich nutze all die genannten Methoden und setze darüber hinaus noch den historischen Vergleich ein. Sie erfülle zudem eine besondere Funktion, weise sie doch darauf hin, dass nun auch die Entwicklung als Ganzes zum Gegenstand positiver Beobachtung und rationaler Planung gemacht werden könne. Sie kröne insofern die Entwicklung, als dass sie die geistigen Fähigkeiten des Menschen selbst zum Gegenstand machen könne.

      Neben der Ausbildung neuer »Rollen« sieht Comte das zweite (wenn man so sagen darf:) sozialstrukturelle Merkmal des positiven Zeitalters sehr treffend in der ebenfalls zu seinen Lebzeiten im Entstehen begriffenen Industriegesellschaft. Die Industriegesellschaft zeichnet sich für ihn durch die wissenschaftliche Organisation der Arbeit aus, die sich aus der ständigen Steigerung des Wohlstandes und der Konzentration von Arbeitern in Betrieben ergibt. In dem Maße, wie Wissenschaftler an die Stelle von Priestern träten, beerbten Fabrikdirektoren und Bankiers die Kriegsherren. Damit änderte sich auch das Ziel der Gesellschaft von der Kriegsführung zum Kampf der Menschen mit der Natur und der rationalen Ausnutzung ihrer Quellen.

      Auch die Phasenbildung selbst gehe auf ein soziologisches Grundgesetz zurück: In einer Gesellschaft gibt es für Comte nur dann eine wirkliche Einheit, wenn die von allen Gesellschaftsmitgliedern geteilten Leitideen ein zusammenhängendes Ganzes bilden. Eine Gesellschaft entstehe also erst dadurch, dass ihre Mitglieder die gleichen Überzeugungen teilen. »Die Denkart kennzeichnet die Phasen der menschlichen Entwicklung, und die heutige und endgültige Phase wird durch den universellen Triumph des positiven Denkens charakterisiert.«44 Ähnlich wie Vico verknüpft aber auch Comte später in seinem Leben sein soziologisches Modell mit einer religiös [42]anmutenden Heilsvorstellung.45 Denn dass die Einheitlichkeit des Denkens nach dem Fetischismus verloren ging, trieb bisher die Geschichte an. Mit der umfassenden Ausweitung des Positivismus werde nun ein Endstadium erreicht, das in seinen Augen ein Heilsversprechen enthält. Die Historizität des Wissens ist eine bedeutende Erkenntnis in der Vorgeschichte der Wissenssoziologie. Nicht jedoch die Geschichtlichkeit des Wissens ist für sie grundlegend, sondern die darin vorausgesetzte Gesellschaftlichkeit, die wir jetzt behandeln.

Entfremdung, Ideologie und Klassenkampf

      So sehr sich Hegel und Comte auch unterscheiden, gemeinsam ist ihnen der große universalgeschichtliche Entwurf. In solch großen Zügen malte auch Karl Marx das Weltengemälde der sich zu seinen Zeiten ausbreitenden bürgerlichen Gesellschaft. Er wandte sich dabei gegen Hegel und führte gleichzeitig seine Ideen fort. Hegel hatte ja insbesondere die Rolle des menschlichen Geistes in der Gestaltung des historischen Wandels betont. Die geschichtliche Veränderung der menschlichen Gesellschaft ist, so könnte man seine These überspitzen, ein Ausdruck der Fort-Entwicklung des menschlichen Geistes. Der Kern des wissenssoziologischen Zugangs von Marx ist dagegen in seinem Materialismus zu sehen. Für Hegel, so bemerkt Marx einmal, sei der Denkprozess, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbstständiges Subjekt verwandelt, der Schöpfer des Wirklichen, das nur eine äußere Erscheinung bildet. Bei ihm dagegen sei das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.46 Weitere Quellen des Denkens von Marx sind der französische Sozialismus und die englischen ökonomischen Theorien, die ihm in seinem späteren Werk dabei helfen, das wissenschaftlich zu bestimmen, was er als die materielle Grundlage des Geistigen bezeichnet.

      Mit seiner materialistischen Absetzung von Hegel steht Marx keineswegs ganz alleine. Hegels Philosophie war bis zu seinem Lebensende (er starb 1831) in Deutschland beinahe zum Dogma geworden. Die weitere theoretische Entwicklung wurde deswegen sehr stark von »Hegelianern« bestimmt. Besonders prominent war das 1835 erschienene Buch »Das Leben Jesu«, in dem der Hegelianer David Friedrich Strauss die Evangelien als eine Mythologisierung der Wünsche und Hoffnungen des Frühchristentums darstellte. Strauss’ Buch führte zu heftigen Auseinandersetzungen und schließlich zu einem Bruch der Hegelianer über die Frage der Geschichtlichkeit der Bibel (der Hegel selbst nicht sehr viel Gewicht beimaß). Die Hegelianer spalteten [43]sich in drei Lager, die Strauss mit Begriffen aus der französischen Revolution bezeichnete: Die Linken, die Rechten und die Mitte.

      Im Mittelpunkt des folgenden Kapitels steht der Beitrag der Linkshegelianer Marx und Engels, die gegen den Idealismus Hegels und den der »Rechtshegelianer« ihren schon erwähnten Materialismus stellten. Dessen Grundzüge lassen sich schon anhand der Vorstellungen von Ludwig Feuerbach skizzieren, dem Marx und Engels die berühmt gewordenen Thesen in ihrer »Deutschen Ideologie« widmeten. Feuerbach bildet ein Bindeglied, ja eine Art Scharnier zwischen Hegel und Marx.

      Wie Marx betont auch Ludwig Feuerbach die Notwendigkeit eines radikalen Bruches mit Hegel.47 Dabei sind insbesondere seine Anschauungen zur Religion folgenreich geworden. Feuerbach ist als der »Kirchenvater des modernen Atheismus« bezeichnet worden. Doch sieht er in der Religion keineswegs nur eine reine Illusion. Für Feuerbach kommt in der Religion vielmehr etwas sehr Grundsätzliches zum Ausdruck, das jedoch nicht die Religion selbst oder ein Gott ist. Im Grunde ist sie das Verhalten des Menschen zu seinem eigenen Wesen: »Das Bewusstsein Gottes ist das Selbstbewusstsein des Menschen, die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen. […] Was dem Menschen Gott ist, das ist sein Geist, seine Seele, und was des Menschen Geist, seine Seele, sein Herz, das ist sein Gott. Gott ist das offenbare Innere, unausgesprochene Selbst des Menschen; die Religion seine feierliche Enthüllung der verborgnen Schätze des Menschen, das Eingeständnis seiner innersten Gedanken, das öffentliche Bekenntnis seiner Liebesgeheimnisse.«48 »Der Mensch«, so kehrt Feuerbach schließlich einen berühmten Satz aus der Schöpfungsgeschichte (Gen 1,27) um, »schuf Gott nach seinem Bilde«.

      Allerdings wird in der Religion nur das kindliche Wesen des Menschen ›abgebildet‹, das noch nicht erkennt, dass es sich in der Religion selbst sieht. Deswegen führt die Religion zu einer illusionistischen Verkehrung elementarer menschlicher Dispositionen. Damit deutet Feuerbach nicht nur das für die Religionssoziologie bedeutsame Argument der Projektion49 an; er formuliert ein von Hegel aufgenommenes Argument, das Marx verschärfen wird – die Verdinglichungsthese: Denn der Mensch vergegenständlicht sich zwar in der Religion; indem er aber an die Religion glaubt, erscheint ihm seine eigene Erkenntnis von sich wie ein anderes, äußeres Ding. Hinter [44]der Religion also steht der Mensch selbst. Wie auch Hegel und später Marx setzt auch Feuerbach auf die Möglichkeit der Überwindung dieser Entfremdung: Der Mensch könne sich seines eigenen Wesens bewusst werden, sobald er erkenne, dass es in die Religion projiziert sei. So könne ein Anthropotheismus, eine Religion, ›die sich selbst versteht‹, begründet werden, deren Grundsatz im »Homo homini Deus est« besteht.50

      Vor dem Hintergrund der verschwörungstheoretischen Religionskritik der Ideologen weisen Feuerbachs Thesen einen geradezu konstruktiven Zug auf, der an Hegel und Comte erinnert. Religion verdecke nicht nur, sie erhelle auch Wirklichkeit, sie sei eine Form der Erkenntnis. Erst die Moderne (wie wir heute sagen) könne sich von ihrer Hülle befreien und der Erkenntnis selbst zum Durchbruch verhelfen.

      Feuerbach wie die idealistischen Links- oder »Jung-Hegelianer« bildeten den Ausgangspunkt, aber auch den Reibestein für Karl Marx.51 Denn

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