Wissenssoziologie. Hubert Knoblauch

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die sich nie nach der Vernunft richtet, aufrechterhalten.«14 Mit anderen Worten: Hinter den Anschauungen und Glaubensvorstellungen stehen die Machtinteressen besonderer sozialer Gruppen, die ihre Machtposition durch eben diese Vorstellungen und Weltanschauung verschleiern wollen. Wer also auf Ideen blickt, muss auch immer nach dem Cui bono fragen, also danach, für wen sie von Nutzen sind.

      Während Bacons Theorie der Idole den Schwerpunkt auf die sozial, psychologisch und anthropologisch bedingten Formen der Selbsttäuschung legt, geht es der Aufklärung dagegen um (mehr oder weniger bewusste) Täuschung. Zwar hatte die Aufklärungsphilosophie auch andere Quellen für Täuschungen eingeräumt. Wie Bacon führen einige Autoren anthropologische Gründe an, die im menschlichen Wesen zu finden sind: Hobbes betrachtet das Begehren als Ursache für falsches Wissen, Locke dagegen sieht den Grund dafür in Unlustgefühlen und Egoismus und Helvétius in den Leidenschaften und Emotionen: »Die Leidenschaften sind in der Moral das, was in der Physik die Bewegung ist.«15 Im Unterschied zu diesen anthropologischen Erklärungen liegt die Theorie des Priesterbetrugs »der Lüge näher als dem falschen Bewusstsein«.16 Sie kommt dem Grundmuster einer Verschwörungstheorie gleich, in der den »Anderen« eine verborgene, täuschende Absicht unterstellt wird.

      Die Interessentheorie stellt also eine Ausweitung der Priesterbetrugstheorie auf andere Kreise als nur die Priester dar. Der Bezeichnung ›Interessentheorie‹ wurde von Theodor Geiger vorgeschlagen, auf den wir später noch eingehen werden: »Die Interessentheorie besagt, dass die im Gefühls-, Trieb- und Willensleben wurzelnden Interessen-Motive die Gedankengänge des Menschen vom geraden Wege zur objektiven Wahrheit ablenken.«17

      Die »Interessentheorie« bildet die Grundlage einer frühen Form der Ideologiekritik, die sich nicht nur mit der Religion, sondern mit den Ideen insgesamt beschäftigt. Von Bedeutung sind hier besonders die so genannten »Ideologen«, zu denen Etienne [29]Bonnet de Condillac, Antoine Louis Claude Destutt de Tracy und Claude Adrien Helvétius zählten. Der für die Wissenssoziologie und die Ideologienlehre so zentrale Begriff der »Ideologie« geht vermutlich auf Destutt de Tracy’s »Elements d’ideologie« (1801–1805) zurück. Destutt de Tracy selbst benutzte den Begriff der Ideologie noch in einem neutralen Sinn für eine Wissenschaft der Ideen, die er begründen wollte. Die Ideologie sollte das richtige Verfahren aufzeigen, das bei der Bildung von Ideen zu befolgen sei. Er schlug sogar vor, Ideen als Teil der Zoologie zu betrachten. Um das »Tier« Mensch wirklich erfassen zu können, sollte man seine geistigen Leistungen abmessen – wobei er natürlich von den religiösen Aspekten absah. Im Gefolge von Bacon argumentierten ›Ideologen‹ wie etwa Helvétius (in »De l’esprit«)18, dass Ideen auf Wahrnehmungen beruhten und deswegen die Philosophie ebenso wie die Wissenschaft auf empirische Beine gestellt werden sollte. Unsere Ideen sind seines Erachtens notwendigerweise Folgen der Gesellschaft, in der wir leben. Die Reaktionen der Menschen auf verschiedene Ereignisse und Tatsachen verändern sich, sobald wir den Standpunkt wechseln. Die Menschen nehmen Ideen und Vorstellungen an, die ihrer besonderen sozialen Position und beruflichen Stellung entsprechen. Wie Barth betont, wird Helvétius damit Vorläufer der ab dem 19. Jahrhundert so populären Milieutheorie, »indem er zu beweisen suchte, dass der Mensch nichts anderes ist als das Produkt der geistigen und sozialen Umwelt, in die er hineingeboren wird«.19

      Ideen sind, so Helvétius, an die Interessen »besonderer Gemeinschaften« (Adel, Könighaus, Klerus) gebunden, die – ihren natürlichen Interessen zufolge – gegen das öffentliche Interesse handelten. Denn die Idee tritt nie rein auf, sie ist vielmehr mit der »amour de la puissance« verbunden, dem Verlangen der Menschen nach Macht. Das verzerrt sie zwar, führt aber auch dazu, dass Ideen sich in der Wirklichkeit entfalten können. Deswegen werden insbesondere ethische Ideen sozial determiniert. Die Gefühle der Vaterliebe, Mutterliebe und Kinderliebe etwa sind nicht nur das Ergebnis von Überlegung, sondern vor allem Frucht der Gewohnheit. Deswegen, folgert Helvétius, sind alle Gedanken und Begriffe der Menschen über die Vermittlung anderer erworben worden. Wie Holbach behauptet er sogar, dass unsere Arten zu denken von den Bedingungen unserer Existenz vollständig determiniert würden, weil das Denken und Handeln von den Interessen bestimmt werde, die sozial bedingt seien. Gegen die herkömmliche Auffassung der Philosophie, die diesen Einfluss übersehen hätte, setzten Helvétius und d’Holbach ein »soziologisches« Verständnis der Ideen, die Menschen in ihrem Verhalten leiten. Die für die Wissenssoziologie charakteristische Analyse des Einflusses der Gesellschaft auf die Ideen bildet damit einen zentralen Gegenstand ihrer Überlegungen.

      Die Annahme einer sozialen Determination der Ideen führte auch zu einer folgenreichen aufklärerischen »Wissenspolitik«, die bis heute fortwirkt: »L’éducation peut [30]tout« – durch Erziehung vermag man alles zu ändern. Eine Voraussetzung für diese »Politik« bildet die Annahme, dass der Mensch und sein Erkenntnisvermögen eine passive Instanz ist, die man von außen her verändern könnte und sollte, um das Allgemeinwohl – also das Glück der größten Zahl – zu verbessern. Die Veränderung der Menschen könnte durch das Bewusstsein erfolgen. Zu diesem Zwecke müsste man sie nur richtig erziehen. Zwar sei alles Wissen interessenbezogen. Doch könnte die Veränderung der sozialen Umwelt eine Veränderung der Menschen bewirken. Denn, wie Hélvetius zeigt, stehen unterschiedliche Arten der Erziehung in einem Zusammenhang mit verschiedenen Arten der Regierung. Eine demokratische erziehe gute Menschen, eine despotische dagegen erziehe böse Menschen ohne Geist. Die Verbesserung der Erziehung führe deswegen zu politischem Fortschritt. Unter einem aufklärerischen Regiment könne, so die Hoffnung, auf diese Weise ein Menschentyp entstehen, der aufrecht sei, mutig, offen und loyal. Eine weitere Folge der aufklärerischen Philosophie für die »Wissenspolitik« war der Kampf gegen die Vorurteile. Er wurde zu einem wichtigen politischen Anliegen, ging man doch davon aus, dass Staat und Kirche an der Erhaltung der Vorurteile interessiert waren.

      Aufgrund dieses wissenspolitischen Veränderungswillens verwundert es nicht, dass der Versuch der Ideologen, eine »Wissenschaft der Ideen« zu begründen, auf den erbitterten Widerstand der Herrschenden stieß, in diesem Falle besonders Napoleons. Napoleon nämlich war es, der für die Verunglimpfung des Begriffes »Ideologie« war. In einer scharfen Polemik bezeichnete er die »Ideologen« als unrealistische und närrische Idealisten – eine Assoziation, die dem Begriff der Ideologie noch heute anhaftet. Es ist bezeichnend, dass dieser Begriff selbst in einer ideologischen Debatte geprägt wurde. Denn mit dem Versuch der Ideologen, eine Veränderung der Welt durch Bildung zu bewirken, kamen sie Napoleon und seiner imperialistischen Machtpolitik in die Quere. Der Konflikt hat noch breitere soziologische Gründe, ist er doch mit dem Aufkommen des europäischen Bürgertums verbunden. Mit dem Zerfall der mittelalterlichen Ständegesellschaft kam es zu einem Austausch von Ideen, der parallel zur Entwicklung der kapitalistischen Geldwirtschaft stand. Bildung, die bisher ein Privileg der Priester und Mönche gewesen war, wurde säkularisiert und ging auf eine neue humanistische Gelehrtenschicht über. Das Ideologieproblem ist damit auch Ausdruck der Emanzipation des europäischen Bürgertums, das sich nun gegen die traditionellen Gelehrten religiöser Provenienz richtete – und gegen diejenigen, die das von den religiösen Lehren legitimierte politische System vertraten.

Revolution, Restauration und der Geist in der Geschichte

      Die wissenssoziologische Betrachtungsweise setzt zwar mit dem bürgerlichen Aufbegehren ein, das auch das »bessere«, wissenschaftliche Wissen für sich beansprucht, doch wäre es ein Irrtum, sie wegen ihrer Religionskritik, wegen ihrer Beobachtung der Interessenbedingtheit des Wissens und wegen ihres Versuches, Änderungen [31]durch Bildung zu erzeugen als durchgängig »progressiv« zu charakterisieren. Neben der bisher angeführten – man könnte sagen: ›ideologiekritischen‹ – Tradition zieht sich in die Wissenssoziologie auch eine etwa gleichzeitig entstehende Tradition hinein, die manche als konservativ bezeichnen. Diese Tradition zeichne sich, so etwa Stark20, dadurch aus, dass der primitive Mensch der Wahrheit näher sei oder dass Wahrheit sozusagen organisch wachsen müsse. Ich halte diese Charakterisierung für unglücklich, geht sie doch von der Voraussetzung aus, dass der Gang der Geschichte ein klares Ziel habe, an dem sich das Progressive und das Konservative bemessen lassen.

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