Wissenssoziologie. Hubert Knoblauch

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Wissenssoziologie - Hubert Knoblauch страница 4

Автор:
Серия:
Издательство:
Wissenssoziologie - Hubert Knoblauch

Скачать книгу

ist eine Art solitärer Prozess, der sich zwischen Erkennendem und Erkanntem vollzieht. Man kann das an einer Illustration veranschaulichen, die – wie weite Teile der Erkenntnistheorie – durchaus von der visuellen Metapher des Erkennens geprägt ist. Sehr allgemein gesprochen gibt es dabei zwei Richtungen der Erkenntnis: Sie besteht in einer Wahrnehmung eines Gegenstandes durch ein Subjekt oder in der Bezugnahme des Subjekts auf den Gegenstand: Unabhängig davon, ob man sich Erkenntnis als aktive Leistung des Subjekts vorstellt oder als passives Einwirken von Reizen auf das Subjekt, zeichnet sich das »erkenntnistheoretische« Modell doch vor allem durch die zweistellige Relation zwischen Erkenntnisobjekt und Erkenntnissubjekt aus:

      Abb. 1: Relation zwischen Erkenntnissubjekt und -objekt

      Die wissenssoziologische Betrachtungsweise unterscheidet sich von dieser erkenntnistheoretischen Betrachtungsweise grundlegend: Sie sieht die erkennenden Menschen als Teil eines sozialen Zusammenhangs, der selbst in den Prozess des Erkennens und den Inhalt des Erkannten bzw. Gewussten eingeht. Deswegen könnte man auch von einer soziologischen Erkenntnistheorie reden. Man kann diese soziologische Wende der Erkenntnistheorie anhand der Kritik an Kant deutlich machen. Hinter Kants Frage, »Wie ist wahres Wissen möglich?«, verbirgt sich die genuin soziologische Frage »Wie ist es möglich, dass in der Erfahrung eines Individuums etwas auftritt, was nicht nur seine Erfahrung ist, sondern die Erfahrung eines jeden sein könnte?«1 Wissen und Erkenntnis ist nicht nur ein individuelles Vorkommnis, sondern ein soziales Ereignis. Lesen und Schreiben etwa sind nicht weniger soziale Akte als Reden und Zuhören. Erkenntnistheorie ist immer auch Gesellschaftstheorie.2

      Die Sozialität von Wissen und Erkennen ist die zentrale These und das Kernthema der Wissenssoziologie. Diese bezieht sich keineswegs nur auf Wissen generell, sondern auch auf die Philosophie und ihre Erkenntnistheorie, welche somit zur Wissenssoziologie werden. Schon in der älteren Wissenssoziologie wird die Sozialität der Philosophie gern am Zusammenhang zwischen nationalen Kulturen und Ausprägungen [15]des philosophischen Denkens aufgezeigt. Damit ist zum Beispiel die Neigung der deutschen Philosophie zur Metaphysik gemeint. Ihren sozialen Grund sieht man in der abgehobenen Lage der verbeamteten Philosophen und einem politisch wenig selbstständigen Bürgertum, das sich bei der späten Nationenbildung auf den alten Adel stützte. Bekanntlich war die deutsche Philosophie wesentlich von den protestantischen Mittelklassen, ja nicht unwesentlich vom protestantischen Pfarrhaus geprägt.

      In England dagegen standen die Philosophen in einer engen Beziehung zum Handel treibenden und Waren produzierenden Bürgertum, was die Nähe der britischen Philosophie zum Empirizismus und Realismus erklärt. Andere Wissenssoziologen gehen sogar so weit, die pragmatistische Ausrichtung der amerikanischen Philosophie auf den Umstand zurückzuführen, dass die amerikanischen Universitäten schon im 19. Jahrhundert von Geschäftsleuten kontrolliert worden seien. Deren Forderungen nach nutzbarem Wissen drücke sich in dieser Philosophie darin aus, dass eine aktivistische Konzeption des Menschen vertreten wird, welche das Denken dem Primat des Handelns unterstellt. Um es plakativ auszudrücken: Wirklich ist, was sich im Handeln als nützlich bewährt.3

      Auch in der jüngeren Wissenssoziologie bleibt der Zusammenhang zwischen philosophischer Erkenntnis und Sozialität ein Thema, wie etwa in Collins’ Soziologie der Philosophien.4 Collins untersucht die verschiedensten philosophischen Schulen, Bewegungen und Milieus – vom antiken Griechenland über das alte Indien bis zum Wiener Kreis und der phänomenologischen Bewegung im 20. Jahrhundert. Die spezifisch wissenssoziologische Ausrichtung seiner Untersuchung wird an seiner Leitthese deutlich: Die Geschichte der Philosophie sei im Grunde eine Geschichte der Gruppen, die philosophieren. Denn Philosophieren werde vor allem durch Kommunikation geprägt. Diese Kommunikation bestehe aus Vorträgen, Konferenzen, Symposien, Diskussionen, Debatten. Durch solche Kommunikation bildeten sich netzwerkartige Strukturen aus, die »Stars«, einen »inneren Kern«, einen »äußeren Kern«, vorübergehend Zugehörige, Publikum und Möchtegernmitglieder enthielten. Die Zusammengehörigkeit werde durch Kontakte erzeugt, die auch institutionalisiert sein können: Schulen, Akademien, Institute seien bekannte Formen, an die schließlich entsprechende Professionalisierung anknüpfe. Die innere Dynamik der Gruppen werde geprägt von Interaktionsritualketten, kulturellem Kapital, das aus den darin vermittelten Symbolen stamme, und emotionaler Energie, die aus der erfolgreichen Durchführung von Interaktionsritualen resultiere. Intellektuelle Gruppen, Ketten von Meister-Schüler-Verhältnissen und Rivalitäten in der Gegenwart bildeten das strukturierte Feld der Kräfte, innerhalb dessen philosophiert werde.

      [16]Aus dieser Perspektive sind philosophische Gedanken nicht Ausfluss einzelner Denker; vielmehr sei es die innere Struktur der intellektuellen Netzwerke, die Gedanken gestalte, und zwar sowohl durch die Koalitionen und Oppositionen der gleichzeitig lebenden Beteiligten (also »horizontal«) wie auch durch die Allianzen mit historischen Vorläufern (»vertikal«). Gruppenstrukturen ordneten nicht nur das Denken; sie seien auch die Motoren der Kreativität. Kreativität werde durch den Wandel in der Struktur der intellektuellen Gemeinschaften erzwungen, und zwar vor allem durch zwei Mechanismen: Rivalitäten und Allianzen. Die Rivalitäten und Aufspaltungen zwängen Denker dazu, ihre Eigenheiten zu maximieren, Allianzen dagegen förderten eine Kreativität der Synthesis, die schwächer werdende Gruppen und entsprechende Gedanken zusammenführten.

      Natürlich bewegen sich philosophische Gruppen auch in einem organisatorischen, politischen und ökonomischen Kontext, so dass sich die Frage stellt, in welchem Verhältnis Größe und Struktur der Gruppen zu diesem Kontext stehen. Da es sich in beiden Fällen um soziologische Kategorien handelt, stützt Collins das wissenssoziologische Argument, dass das philosophische Denken (und damit auch die Erkenntnistheorie) in hohem Maße von der sozialen Struktur abhängt, so dass diese gar die »Logik« der philosophischen Gedankenentwicklung bestimmt.

      Collins Betrachtungsweise ist keineswegs so revolutionär, wie sie sich auf den ersten Blick ausnimmt. Schon in der älteren deutschen Wissenssoziologie gab es mehrere Versuche, die Inhalte insbesondere der griechischen Philosophie auf ihre soziale Struktur zu beziehen.5 Wissen, so die zentrale These der Wissenssoziologie, ist wesentlich sozial.

      Die Erläuterung und Erklärung der Sozialität des Wissens wird deswegen eines der zentralen Themen dieses Buches sein. Sie erweist sich als überaus bedeutsames, jedoch keineswegs einziges durchgängiges Thema der Wissenssoziologie. Auch ein anderes ihrer Themen steht in der Tradition der Erkenntnistheorie. Es handelt sich dabei um eine Unterscheidung, die schon Platon vorgeschlagen hat. Eine Form des Wissens ist sprachlicher Natur, die andere Form ist dagegen unmittelbar, also eine Art der Erkenntnis, die nicht den »Umweg« über die Formulierung von Sätzen nehmen muss. Zentral ist für ihn die Unterscheidung von Wissen (έπιστήμη) und Meinung (δοξα). Meinung bezieht sich nie auf Wahrnehmung selbst, sondern auf etwas Wahrgenommenes; sie ist wandelbar und zwiespältig, d.h. entweder wahr oder falsch. Sie führt nicht zu Wissen. Wissen oder έπιστήμη (»episteme« – daher auch der Begriff der Epistemologie) verhält sich zur Meinung wie Augenzeugenerfahrungen zu Aussagen. Wissen unterscheidet sich von Meinungen durch Erfahrungen im Bereich der wahrnehmbaren Welt.6 Der wissenssoziologische Zugang unterscheidet sich überdies vom philosophischen dadurch, dass er die »Meinung« im platonischen Sinn der »δοξα« [17](»doxa«, »sensus communis«, »common sense« etc.) keineswegs notwendig als Abfallprodukt des Wissens ansieht. Ganz im Gegenteil rücken zahlreiche Wissenssoziologen die »Meinungen« in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit, ja manche gehen sogar soweit, alles Wissen zur Meinung zu erklären.7 Um diese Perspektive zu charakterisieren, könnte man von einem kritischen Wissensbegriff in der Wissenssoziologie (etwas radikaler könnte man auch von epistemologischem Agnostizismus) reden. Sehen wir einmal von den positivistischen Vertretern der Wissenssoziologie (und der »Wissensgesellschaft«) ab, wird Wissen nicht auf »wahres« Wissen reduziert. Die Wissenssoziologie stellt immer die Frage danach, wer denn welches Wissen für wahr hält. Wahrheit also ist Geltung, und diese Geltung ist sozial

Скачать книгу