Wissenssoziologie. Hubert Knoblauch

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Wissenssoziologie - Hubert Knoblauch

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des Lichtes vor der Erschaffung der Sonne. Diese Kritik, so wandte Herder jedoch ein, könne nie die Lehren der Bibel erreichen. Anstatt sie an der Logik zu messen, sollte sie in ihrem besonderen kulturellen Entstehungskontext betrachtet werden. Die Bibel nämlich drücke die Ansichten eines Hirtenvolkes aus: Für die Beduinen sei eben das Licht tatsächlich vor der Sonne da – in Gestalt der Dämmerung.

      Herder bringt hier zweifellos den zentralen wissenssoziologischen Gedanken der »Doxa« zum Ausdruck, spiegeln doch die Anschauungen des jüdischen Volkes nicht nur ihre soziale Ordnung, sondern auch ihre Lebensform wider. Herder entwickelte daneben auch andere Gedanken, die später noch berühmte Früchte tragen sollten. Zum einen wandte er sich gegen die (schon von Voltaire vertretene) Auffassung, dass der primitive Geist dem modernen unterlegen sei. Wie später Lévy-Bruhl betonte er, dass zwischen dem Primitiven und dem Modernen kein Verhältnis von Reife respektive Unreife, Irrationalität oder Rationalität oder gut und schlecht herrsche. [35]Beide stellten vielmehr unterschiedliche Arten des Denkens dar, von denen jede ihre eigenen Vorzüge, Möglichkeiten, aber auch Begrenzungen habe: So sehr der moderne Geist in der Lage sei, rational zu planen, Technologien zu entwickeln und abstrakte Probleme zu behandeln, so habe er doch die Fähigkeit verloren, konkrete Erfahrungen zu machen: Die Welt sei ihm ein abstraktes Gebilde und habe ihre Farbe verloren. Der Primitive habe ein sehr viel unmittelbareres Verhältnis zur Welt, eine Gabe der Intuition, die es ihm erlaube, das Ganze zu erfassen.

      Folgenreich war auch seine Auffassung, dass jede Gesellschaft, so unterschiedlich die Menschen in ihr auch sein mögen, eine geistige Einheit bilde. Es gebe also so etwas wie eine Art Gemeingeist, der auch als Volksgeist bezeichnet wurde. Dieser Begriff geistert noch lange durch das 19. Jahrhundert, und man wird darin unschwer einen Vorläufer dessen erkennen, was Durkheim später als »kollektives Bewusstsein« bezeichnen wird. Volksgeist wird ein geistiges Produktionsprinzip, eine Art »Gesamt-Ich« genannt, das sich in einzelnen Nationen je unterschiedlich ausdrückt, und zwar in ihren verschiedenen Sprachen, Sitten, Gebräuchen und in ihrer Rechtsordnung. Ursprünglich von Vico formuliert, nahm der Begriff im 18. und 19. Jahrhundert (etwa bei Justus Möser und Adam Müller) propagandistische Züge an: Er diente dazu, die Besonderheit des deutschen Volkes aus seinen kulturellen Gemeinsamkeiten heraus zu begründen. Er klingt im heute noch gebräuchlichen »Nationalcharakter« mit. Auch bei Hegel, auf den wir gleich eingehen werden, tritt der Begriff auf. In seinen Augen bringen verschiedene Nationen zum Beispiel unterschiedliche Rechtssysteme hervor – was in ihrem Volksgeist verankert sei. Diese Vorstellung wird von der ›historischen Rechtschule‹ aufgenommen (dort finden wir auch den Begriff des Volksbewusstseins, das etwa bei dem berühmten preußischen Juristen Savigny die gemeinsamen Überzeugungen eines Volkes bezeichnet). Als ein Ausdruck des Volksgeistes gilt etwa der Umstand, dass das germanische Rechtssystem eine Bevorzugung organischer Beziehungen aufweist, die sich in Genossenschaften äußern. Der romanische und angelsächsische Volksgeist dagegen bevorzuge das Naturrecht, den ökonomischen Liberalismus und den Individualismus. Die später von Wilhelm Wundt begründete Völkerpsychologie übernimmt diesen Begriff, verändert aber seine Bedeutung. Der Volksgeist ist für Wundt keine übergeordnete Größe mehr, sondern etwas, das in den Individuen verankert ist. Für ihn bildet dagegen die Volksseele ein »Gesamtbewusstsein«, das in der Sprache, in Mythen und Sitten zum Ausdruck komme.

      Das historische Stufenmodell, also Vicos Dreistadiengesetz der Dekadenz, wurde auch in der Aufklärung aufgenommen, erfuhr jedoch eine andere Betonung: Die Aufklärung sieht den Gang der Geschichte nicht mehr als zyklisch, sondern als linearen Fortschritt. Eine solche lineare historische Entwicklung des Geistes hatte schon Turgot 1750 in seinem »Discours sur les progrès successifs de l’esprit humain« behauptet, in dem die Idee des Fortschritts zum integralen Prinzip der Geschichtsinterpretation gemacht wurde. Die Geschichte entfalte sich aus einem ersten theologischen Stadium zu einem zweiten metaphysischen Stadium und münde schließlich [36]in ein drittes positives Stadium, das von einer wissenschaftlichen Orientierung geprägt sei. Turgot ist damit einer der ersten, der sich die Geschichte als eine aufsteigende Entwicklung vorstellt, in der die Menschen zur selbstverantworteten innerweltlichen Vollendung empor gelangen. Die Menschheit erscheint dabei wie ein einziges Subjekt, das an seiner Vervollkommnung arbeitet: seine Natur entfaltet, seinen Geist aufklärt, seine Gefühle ausweitet und reinigt, das weltliche Los verbessert, Tugend, Freiheit und Wohlstand mehrt.

      Einflussreicher noch war Condorcets »Esquisse d’un tableau des progrès de l’esprit humain«, das mitten in der französischen Revolution im Jahre 1793 geschrieben wurde. Manche behaupten, dass hier zum ersten Mal ein klares Verhältnis zwischen sozialen Strukturen und denen des Denkens erkannt worden sei.28 Denn für Condorcet steht der menschliche Geist in einem perfekten Verhältnis zur sozialen Wirklichkeit. Dieses Verhältnis wirft jedoch keinerlei Probleme der Täuschung oder des Irrtums auf, da der Fortschritt des menschlichen Geistes, der Fortschritt des Wissens, der Fortschritt der Wissenschaft und der der Menschheit verschiedene Aspekte derselben Bewegung darstellten, die vom Geist angetrieben werde.29 Der Fortschritt der Wissenschaften, so Condorcet, sicherte den Fortschritt der Erziehung, die wieder die Wissenschaft voranbringe. Dieser gegenseitige Einfluss sei eine der mächtigsten und wirksamsten Ursachen für den Weg zur vollkommenen Menschheit.30

      Während Voltaire, Turgot und Condorcet die aufklärerischen Gedanken mit der Geschichtsphilosophie zur Fortschrittsvorstellung verbanden, wurde Vico ab den 1820er-Jahren zu einer wichtigen Inspiration der Gegenreaktion auf die Aufklärung. Autoren wie de Maistre, Bonald oder Mme de Stäel bezogen sich auf ihn, weil sie sich gegen die einseitige Verdammung der Religion und den rein rationalistischen Zugang zur Gesellschaft durch die Aufklärung wehrten. Vico wurde zu so etwas wie der Leitfigur der französischen Romantik – und nahm eine ähnliche Rolle ein wie Hegel in Deutschland.31

      Auf eine besondere und folgenreiche Art wurde die Beziehung zwischen dem Denken und der Geschichte von Georg Wilhelm Friedrich Hegel formuliert.32 Hegels Grundgedanke der Dialektik geht von einem ursprünglichen Gegensatz zwischen Gedanken und Wirklichkeit aus. Da der Mensch zur Selbsterkenntnis fähig ist, also sich selbst zum Gegenstand der Erkenntnis machen kann, ist er in der Lage, aus dem Gegensatz von Gedanke und Wirklichkeit eine Wirklichkeit zu machen, [37]die vom Gedanken geleitet wird.33 Deswegen kann Hegel im menschlichen Zusammenleben und in den Manifestationen menschlichen Tuns, wie Kunst, Religion und Wissenschaft, auch einen Ausdruck dessen sehen, was er den Geist nennt.

      Wegen der »Geistdurchdrungenheit« der Wirklichkeit wird sein Ansatz auch als idealistisch bezeichnet. Der Kern dieses Idealismus besteht darin, dass die äußere Wirklichkeit nicht als selbstgenügsam gilt, sondern durch geistige Bedeutungen, durch Begriffe geleitet wird und somit das Geistige aufnehmen oder ausdrücken kann. Denn indem der Mensch seine Begriffe in die Tat umsetzt (und dies keineswegs nur zweckrational), »objektiviert« er sie – und sich selbst als Handelnden – in der Geschichte und kann sie (und sich) in dem, was er objektiviert hat, erkennen. Es gibt also eine Art »objektiven Geist« – etwa den Volksgeist – die Selbsterkenntnis des Menschen durch das, was er erzeugt hat.

      Dieser objektive Geist nun realisiert sich in der Gesellschaft bzw., wie Hegel betont, in der Geschichte: Der Geist drückt sich in sozialen Formen aus und wird dadurch auch in der Sozialität erkennbar. Indem der Mensch seine sozialen Beziehungen zum Beispiel in rechtlichen Formen, in religiösen Gestaltungen oder im Staat objektiviert, kann er auch seine eigenen Beziehungen als selbst produziert erkennen. Dem Recht und dem Staat schreibt Hegel dabei eine besondere Rolle zu, da Recht und Staat für den Zusammenhang der gesellschaftlichen Handlungen verantwortlich seien. Auch die Religion ist für ihn durchaus eine der Formen, in denen der objektive Geist erscheint. Allerdings handelt es sich bei ihr um eine eigenartige Form: Sie ist eine List der Vernunft, mit der der Weltgeist die Akteure dazu bringt, das zu tun, was an der Zeit ist, auch wenn sie meinen, etwas anderes zu tun.

      In der historischen Entfaltung solcher sozialen Formen komme der Geist immer mehr zu sich selbst – und das gelinge ihm, indem er die Formen wechsele. Es sei nun allerdings nicht die Form der Religion, die seine zeitgenössische bürgerliche Gesellschaft integrieren könne, sondern vielmehr

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