Medientheorien kompakt. Andreas Ströhl

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Medientheorien kompakt - Andreas Ströhl

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ist medientheoretisch unsicher. Denn es gibt mit den bereits erwähnten radikalen Konstruktivisten auch sehr ernstzunehmende Medientheoretiker, die die Welt (und auch uns selbst) eher als das Produkt eben dieser Zeichen verstehen. Aber zurück zum Begriff des »Mediums«. Die Codes (z. B. die Schrift), die Datenträger (z. B. das Buch), die Kulturtechnik (z. B. das Lesen), die zur Übertragung oder Speicherung von Daten verwendete Technik (z. B. der Buchdruck), die Kanäle, durch die diese Daten transportiert werden (z. B. Verlage und Buchhandel), die technischen (z. B. die Druckerpresse) und selbst die gesellschaftlichen Apparate und Institutionen (z. B. die Schulen oder Bibliotheken), ja sogar das Geld, die Wahrheit oder die Liebe – all dies ist schon irgendwann einmal in irgendeiner Theorie der Medien als »Medium« bezeichnet worden. Und auch in der Geschichte von Moses und den Zehn Geboten würden verschiedene Medientheoretiker unterschiedliche Medien erkennen – die einen sähen in Moses den Mittler oder Mediator, das Medium also, andere in den Steintafeln, wieder andere in der Schrift, in der verwendeten Sprache oder in der Institution des Gesetzes selbst.

      In den ersten Medientheorien, die aus heutiger Sicht als solche gelten, etwa bei Platon (→ S. 32), taucht der Begriff »Medium« selbst gar nicht auf. Die mythischen Erzählungen, die irgendwann einmal in Schriftform gegossen wurden, wie etwa die Bibel oder die Ilias, besitzen aber durchaus medientheoretisches Potenzial, wie die eingangs nacherzählte Episode von Moses und den Gesetzestafeln zeigen sollte. Dass darin Fragen von Autorschaft und Erzählstrategien, von Mündlichkeit und Schriftlichkeit verhandelt werden, deutet darauf hin, dass medientheoretische Fragestellungen auch damals, vor 3.000 oder 5.000 Jahren, als ganz existentiell und wesentlich in ihrer Bedeutung betrachtet wurden. Was darin verhandelt [16]wird, trägt heute die Bezeichnungen »Medium«, »Kulturtechnik« oder »Kommunikationsstruktur«. Heutige Medientheorien und moderne oder postmoderne Medienphilosophie beziehen sich folglich immer auf eine Philosophiegeschichte, in der viele ihrer Grundfragen schon gestellt sind. Es sind besonders die ungelösten Probleme aus der Geschichte der Erkenntnistheorie, die heute im Gewand dieser Theorien wiederkehren.

      Doch auch der Begriff des »Mediums« ist schon uralt. Begriffsgeschichten sind zwar immer fragwürdig, weil sich Bedeutungen nicht sinnvoll von dem kulturellen Zusammenhang trennen lassen, der ihnen erst Sinn verleiht. Und dieser unterliegt häufigen Wandlungen. Legt man aber Wert darauf, eine Geburtsstunde für die heutige Bedeutung des Begriffs »Medium« festzulegen, so ließe sich diese wohl am sinnvollsten bei Aristoteles ansetzen. Im siebten Hauptstück des zweiten Buchs von De animus schreibt er:

      Democritus ist hier unrichtig, indem er meynt, daß wir, wenn das Medium, (durch das wir sehen,) ein Vacuum wäre, weit deutlicher sehen würden, ja, daß wir selbst eine Ameise im Himmel, (durch das Auge,) unterscheiden würden. Denn dieß ist ganz unmöglich. Weil das Sehen nur dadurch geschieht, daß das Sinnorgan, (von Außen,) leidet. (Mithin von Etwas äußerem afficirt wird.) Daß es von der Farbe (dem gefärbten Gegenstande,) der gesehen wird, (unmittelbar) afficirt werde, ist gar nicht möglich. (Weil dann der Gegenstand uns zu nahe, und mithin, eben deswegen, für uns nicht sichtbar wäre.) Es bleibt daher nichts übrig, als, daß er durch ein Medium afficirt werde. Folglich ist ein solches Zwischending, (ein Medium,) nothwendig. Wenn es aber zu einem Vacuum würde, würde nicht nur nichts deutlich, sondern vielmehr gar nichts gesehen werden. (Aristoteles 1794, 132)

      Schon bei Aristoteles, dem Urvater abendländischen Denkens, findet sich also die Überlegung, dass wir ohne Vermittlung eines »Zwischendings«, eines Mediums, nichts wahrnehmen könnten. Die gewählte Aristoteles-Übersetzung stammt aus der Zeit der Französischen Revolution, weil sich mit diesem Beginn der Neuzeit im engeren Sinne auch unser modernes Verständnis von Medien ausformt. Medien und ihre Funktionen hat es immer gegeben. Doch erst mit dem Aufkommen des Buchdrucks, mit der Reformation und der darauffolgenden Alphabetisierung weiter Bevölkerungsteile entsteht ein Bewusstsein für das Massenmedium als solches. In der Wahrnehmung von Medien ist dies die zweite Zäsur. Die erste Zäsur war die Erfindung der Schrift selbst, das Aufkommen der Schriftreligionen Judentum, Christentum und Islam sowie die ersten Reflexionen über die Schrift und das Mediale bei Aristoteles, Sokrates und Platon.

      In diesem Zeitraum zwischen der flächendeckenden Verbreitung des ersten technisch hergestellten Massenmediums Buch und der für dessen Rezeption erforderlichen Kulturtechnik des Lesens im Europa des 16. und [17]17. Jahrhunderts, einerseits, und dem Aufkommen der ersten technischen Bilder (der Fotografie und dem Film) und der ersten elektrischen Medientechniken (Telegrafie und Radio) im 19. und 20. Jahrhundert, andererseits, beginnt sich eine andere Vorstellung vom Medium zu formen. Medien scheinen nun ein Eigenleben anzunehmen. Obwohl auch die ersten explizit als »Medientheorie« bezeichneten Thesen genau zu dieser dritten Zäsur im frühen 20. Jahrhundert formuliert werden, gab es zuvor im weitesten Sinne schon eine moderne Medientheorie avant la lettre, eine, die sich ihrer selbst nur noch nicht bewusst war. In dieser Zeit bildet sich nun etwas heraus, was sich aus heutiger Sicht »Medienwissenschaft« nennen ließe:

      Noch zögerlich in den 1930er Jahren auf beiden Seiten des Atlantiks, aber deutlicher schon in den späten 1950er Jahren und massiv um die Jahrtausendwende entstehen immer wieder Programme von Medienwissenschaften genau dann, wenn wir Medienübergänge, also den massiven Durchbruch eines oder mehrerer neuer technischen Medien zu beobachten haben. Der Übergang Stummfilm/Radio/Tonfilm ab Ende der 1920er Jahre prägt in den USA den Begriff; der Übergang Radio/Fernsehen in den 1950er Jahren generiert die ersten Entwürfe von Medienwissenschaft; mit dem dritten, dem Übergang Fernsehen/ Computer/Internet in den 1990er Jahren erleben wir die Inflation von Medienwissenschaftskonzepten, vor denen wir heute stehen. (Hagen 1988, 88)

      In den 70er- und 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts ereignet sich eine weitere, vierte Zäsur, der medial turn. Medienwissenschaften und vor allem Medientheorien rücken nun zur modischen Leitwissenschaft auf. Die mediale Bedingtheit unserer Wahrnehmung gerät in den Mittelpunkt zahlreicher Theorien und Wissenschaften, bis hin zu den von den Geisteswissenschaften zuvor weitgehend unbehelligten Naturwissenschaften. Wenn es nun Schallplatten gibt, die sprachliche Texte wiedergeben können, wird plötzlich klar, dass auch die Schrift ein Code ist, der nicht ohne Einfluss auf das mit seiner Hilfe und in ihm inhaltlich Formulierte bleiben kann, dass auch die Schrift und das Buch nur Medien sind, Medien, die sich zufällig vor der Schallplatte und dem Radio etabliert haben. Woher »wissen wir eigentlich«, fragt beispielsweise Vilém Flusser, dass die »großen Schriftsteller (inklusive dem Autor der Heiligen Schrift) nicht lieber auf Tonband gesprochen oder gefilmt hätten?« (Flusser 1992c, 7) Der Geist als Gegenstand der Geisteswissenschaften wird von Friedrich Kittler (→ S. 207) infrage gestellt – zugunsten einer Fokussierung auf Codes, Kanäle und Medientechniken. Plötzlich erschüttert erstens ein im Grunde lange schon bekannter Umstand die Art und Weise, wie Wissenschaft betrieben und Kunst geschaffen wird: dass nämlich unser Denken vom Code, in dem es stattfindet, abhängt, und unsere Wahrnehmung von medialen Prägungen. Zweitens gelingt erst zu diesem Zeitpunkt, um die [18]Mitte des 20. Jahrhunderts, der unvoreingenommene Blick auf die Medien an sich, das heißt losgelöst von den von ihnen transportierten Inhalten. Rückblickend erscheint dies verwunderlich. Denn

      wenn wir uns in der öffentlichen wie der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit vor allem auf den Inhalt von Kommunikationen konzentrieren, gleicht das dem hypothetischen Versuch, die Bedeutung des Automobils zu verstehen, indem man ignoriert, daß es ein neues Transportmittel gibt, und sich statt dessen auf eine detaillierte Untersuchung

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