Medientheorien kompakt. Andreas Ströhl
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Heute schließlich haben, fünftens, die Alltäglichkeit der Nutzung immer leistungsfähigerer Gadgets, die in immer mehr Bereiche des Lebens eindringen, sowie die Allgegenwart des Internets zu einer Relativierung der großen, sinnstiftenden Medientheoriegebäude der 80er- und 90er-Jahre mitsamt ihrer apokalyptischen oder utopischen Prophezeiungen geführt.
Nochmals die hier vorgeschlagenen Zäsuren, welche uns helfen sollen, die Geschichte von Medientheorien übersichtlich zu strukturieren:
1 von den Anfängen der Mediennutzung bis zu den großen Epen, Schriftreligionen und zur klassischen griechischen Philosophie (um die Zeitenwende)
2 bis zu Buchdruck, Reformation und Alphabetisierung (16.–18. Jahrhundert)
3 bis zu den technischen Bildern und den elektrischen Medientechniken (19.–20. Jahrhundert)
4 bis zum medial turn und dem Aufstieg der Medientheorien zu Leitwissenschaften (1970er/-80er Jahre)
5 Relativierung der Großtheorien; das Internet als dominantes Verbundmedium (seit den 1990er Jahren)
Was sind Medien?
Schon an der Frage, was überhaupt ein Medium sei, zerschellt der Traum von einer einheitlichen Wissenschaft oder Theorie von den Medien. Wie das Aristoteles-Zitat oben zeigt, stellte man sich in der Antike und in der Folge der aristotelisch und platonisch beeinflussten Lehren in Europa (einschließlich des Katholizismus) unter »Medien« zunächst physische Stoffe wie Luft oder Wasser vor. 1675 ging Isaac Newton noch von einem ätherischen Stoff aus, der die Bewegung des Lichts und damit das Sehen ermögliche. Dieser Stoff galt ihm als Medium.
[19]Parallel dazu waren Medien aber immer auch Sendboten des göttlichen Willens. Der Götterbote Hermes ebenso wie der Erzengel Gabriel, der Prophet Mohammed oder Jesus Christus: Sie alle überbringen göttliche Nachrichten.3 Für Katholiken übernimmt die Jungfrau Maria allerlei Fürbitten, die offenbar einer medialen Vermittlung bedürfen. Von Anbeginn an hat unsere Vorstellung vom Medium also auch religiöse Züge: Das Heilige, die Wahrheit selbst zu sehen, ist uns unmöglich oder verboten. Mittler sind nötig. Das können Engel, Propheten oder Priester sein – oder eben Schriften oder andere Datenspeicher.
Dieser Tradition entstammt auch der Sprachgebrauch vom Medium als dem besonders begabten Empfänger übersinnlicher Information. Bis ins frühe 20. Jahrhundert wird unter einem Medium vor allem ein Mensch verstanden, der dank besonderer Begabung, durch Trance, Hypnose, Drogen, Nahtoderfahrungen, Hysterie oder andere ekstatische Begleitumstände in der Lage ist, mitzuteilen, was anderen Menschen nicht offenbar wird: verborgenes, geheimes Wissen, die Zukunft etc. Als Franz Anton Mesmer Ende des 18. Jahrhunderts diese Formen von Volksglauben, gestützt durch die gleichzeitige Erforschung der Elektrizität und die Entdeckung der »tierischen Elektrizität« durch Luigi Galvani, vorgeblich naturwissenschaftlich fundiert, als er Formen von Hypnose als »animalischen Magnetismus« gesellschaftlich akzeptabel und salonfähig zu machen versucht, werden seine Versuchspersonen ganz selbstverständlich als »Medien« bezeichnet.
Ein Indiz dafür, dass der Begriff des Mediums im Sinne von Durchlässigkeit für etwas verwendet worden ist, findet sich in Georg W. F. Hegels Wissenschaft der Logik von 1812 – fast beiläufig wird da erwähnt, dass so, wie das Wasser im Körperlichen die vermittelnde Funktion eines Mediums hat, im Bereich des Geistigen die Zeichen bzw. die Sprache diese mediale Funktion übernehmen […]. Das Medium ist ein Tor zur Welt des Symbolischen (Hartmann 2010, 273).
Ab 1870 fotografiert der Arzt Jean Martin Charcot in der berühmten Nervenheilanstalt Salpêtrière in Paris Hysterikerinnen. Seine Modelle, wie die durch die Sessions und Fotos berühmt gewordene Augustine, waren Patientinnen und Darstellerinnen zugleich.4 Vor allem aber verkörperten sie etwas Unheimliches, scheinbar ihnen selbst Unzugängliches: Sie sind Medien, die etwas transportieren und vermitteln. Die Fotografie selbst als »Medium« zu bezeichnen, wäre damals aber noch niemandem eingefallen. Und noch als der Parapsychologe Albert von Schrenck-Notzing 1929 [20]Fotos von »Materialisationsphänomenen« (z. T. in Anwesenheit von Thomas Mann) macht und ausstellt, wird keineswegs die Fotografie selbst als »Medium« bezeichnet, sondern vielmehr immer noch die fotografierten Personen, die diese Phänomene des sogenannten »physikalischen Medionismus« hervorbringen.
Doch dann, etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts, setzt sich allmählich die Bedeutung von »Medium« durch, die wir heute zuallererst mit dem Begriff verbinden: ein technisches Kommunikationsmittel, stets im Zusammenhang mit seinen kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingtheiten und Bedingungen gedacht.
Die Wiederbelebung und Umprägung des alten Begriffs vom »Medium« haben wir dann, es muss gesagt werden, der Werbewirtschaft zu verdanken:
»Medien«, »media« – das ist, streng diskurshistorisch betrachtet, ein Konzept aus der amerikanischen Mikroökonomie der Werbewirkungsforschung und nicht etwa aus soziologischen Diskursen. Die Werbewirtschaft und niemand sonst musste in dem Begriff »Medien« den Epochenübergang markieren, der sich mit den Überlagerungen von Print, Plakat, Leuchtschrifttechniken, Film und Radio in den 1920ern ereignete. […] Kurzum: Nicht eine Wissenschaft, sondern die Medien selbst, nämlich der mikroökonomische Diskurs ihrer Werbeagenturen, haben das Pluraletantum der Medien in die Welt gesetzt. (Hagen 2011, 89–92)
Ein Medium nach unserem heutigen Sprachgebrauch ist zunächst einmal eine Instanz, die Kommunikation ermöglicht. Nie jedoch sollte vergessen werden, dass die religiösen (Zugang zu geheimem Wissen) und naturwissenschaftlichen (Trägersubstanz für chemische oder physikalische Reaktionen) Bedeutungen auch im heutigen Gebrauch des Begriffs immer noch mitschwingen, wenn auch meist unbewusst.
Medien im heutigen Sinne sind unverzichtbar in der Kommunikation mit anderen Menschen. Doch welche Funktion genau nehmen sie in diesem Prozess ein? In den klassischen Kommunikationstheorien werden verschiedene Funktionen voneinander abgegrenzt. Die meisten dieser Theorien sehen folgende Instanzen vor: einen Sender, einen Empfänger, einen Code, einen Kanal, eine Umwelt, Geräusche – und eben ein Medium. Soweit herrscht weitgehende Übereinstimmung. Doch Kommunikationsund Medientheorien sind immer Ausdruck einer hinter ihnen stehenden, umfassenderen Grund- und Geisteshaltung, einer bestimmten Philosophie oder Ideologie. Deshalb ist bei jeder Beschäftigung mit Medientheorien ein Blick auf Philosophie und Ideengeschichte unumgänglich. Auch diese Einführung in die Medientheorien wird deshalb einige wichtige philosophische und vor allem erkenntnistheoretische Positionen und Entwicklungen[21] kurz rekapitulieren, als deren Ausdruck oder Neuformulierung auch die zeitgenössischen Medientheorien verstanden werden müssen.
Je nach übergeordnetem Weltbild verschieben sich die Schwerpunkte in der ihm zuzuordnenden Medientheorie. Dies zeigt sich besonders deutlich anhand des jeweils verwendeten Begriffs vom Medium: Was in der einen Theorie als »Kanal« gilt, wird in der anderen als »Medium« bezeichnet. Zur Erläuterung hier nochmals das Beispiel von Moses und den zehn Geboten: Eine intuitive Zuordnung der Begriffe (noch vor dem Versuch, diese zu definieren) ergäbe etwa folgendes Bild:
Kommunika- tionstheoreti- scher Begriff | Sender | Code | Medium | Kanal | Empfänger | Message |
Beispiel zehn Gebote | Gott | Schrift | Steintafel | Moses | Israeliten | Gebote |
Abbildung 1: Der Kommunikationsakt »Moses bringt den Israeliten die zehn Gebote«
Doch