Medientheorien kompakt. Andreas Ströhl
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Spätestens hier wird deutlich, wie komplex die Angelegenheit wirklich ist. Verschiedene Interpreten würden den Kommunikationsvorgang »zehn Gebote« ganz unterschiedlich analysieren und kategorisieren. Als Sender ließe sich neben Gott auch Moses verstehen, denn schließlich war er es ja, der den Text geschrieben hat. Der Code kann die Schrift sein, die hebräische Sprache, die Textsorte des Gebots etc. Am umfassendsten jedoch ist[22] der Begriff »Medium«: Im Gegensatz zu unserer vereinfachenden Darstellung gibt es ganz unterschiedliche medientheoretische Positionen, die hier jeweils das Folgende zum Medium zählen würden:
Moses
die Steintafeln
den Meißel
die Schrift
die hebräische Sprache
die Gebote
die Religion
den Weg, den Moses geht
Moses’ Füße
Das heißt, nahezu alle Instanzen des Kommunikationsprozesses lassen sich aus dem einen oder anderen Blickwinkel als Medium verstehen, als dasjenige, was vermittelt.
Es ist nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall medialer Kommunikation, dass dabei mehrere Medien wie russische Matrjoschka-Puppen ineinander enthalten sind. Der Läufer von Marathon5, dessen Körper selbst die Nachricht gespeichert hatte, ist die seltene Ausnahme von der Regel. Doch sowohl Moses, als auch die Steintafeln, die Schrift, die hebräische Sprache oder die Textsorte »Gesetz« können als ineinander verschachtelte Medien betrachtet werden. Bei der – ursprünglich durchaus nicht zum reinen Vergnügen betriebenen – Übermittlung von Nachrichten durch Brieftauben beispielsweise ist es ähnlich: Ist das Medium nun die Taube selbst oder der Brief, den sie trägt? Ist es der Text, der die Nachricht transportiert, oder kommt nicht vielmehr der medialen Nachrichtentechnik »Brieftaubensport« als Institution eine Bedeutung zu? Feine Differenzierungen bringen uns hier kaum weiter – sondern eher ins Gestrüpp spitzfindiger Begriffsungetüme als akademischem Selbstzweck. Es führt also kein Weg daran vorbei, den Begriff »Medium« in seiner Vieldeutigkeit zu akzeptieren und dabei anzuerkennen, dass er auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen zugleich Gültigkeit besitzen kann.
[23]»Entsprechend mehrdeutig fällt die Liste dessen aus, was als »Medien« bezeichnet worden ist«, schreibt Dieter Mersch (2006, 10 f.) und listet auf: Körper, Stimme, Schrift, Buchdruck, Holzschnitt, Fotografie, Schallplatte, Radio, Film, Fernsehen, Instrumente, Werkzeuge, Proben, Präparate, Apparate, Waffen, Kleidung, Uhren, Geld, Brillen, Häuser, Belüftungssysteme, Konsumgüter, Straßen, Kutschen, Autos, Flugzeuge, Licht, Luft, Wasser, materielle Kommunikationsträger, Liebe, Kunst, Relais, Transistoren, Computerhardware.
So erschreckend verwirrend, allumfassend und deshalb auch bedeutungsarm eine solche Auflistung sein mag, so zeigt sie doch dreierlei:
1) Eine solche Heterogenität lässt sich nur dadurch erklären, dass Medientheorien Bestandteile ganz unterschiedlicher Zugänge zur Deutung der Welt sind. Nur in diesen Kontexten also werden sie sich sinnvoll erklären lassen. In diesem Sinn hat eine übergeordnete kulturwissenschaftliche Theorie von den Medien eine ideologiekritische Funktion: Sie muss die Zusammenhänge jeweiliger Medientheorie mit der umfassenderen Weltanschauung in ihrem Hintergrund aufdecken und erläutern. Die Aufgabe des vorliegenden Buches ist es, die Wirrnis ein wenig zu lichten, die unterschiedlichen Theoriefragmente und Begrifflichkeiten zu sichten und zu sortieren.
2) Schon an diesem Punkt wird klar, dass es nicht eine Medientheorie geben kann, sondern nur Medientheorien im Plural. Nicht nur verfolgen die unterschiedlichen Medientheorien ganz verschiedene Ansätze und Erklärungs- und Deutungsziele; sie sind auch Theorien sehr unterschiedlicher Reichweite und überlappen einander schon deshalb, weil jede Theorie Bestandteil, Ableitung und praktische Anwendung eines philosophischen Ansatzes – meist sogar mehrerer – ist. Im Grunde muss deshalb von einem Geflecht von Theorien und Einflüssen gesprochen werden. Ein Beispiel: Vilém Flussers Kommunikologie (→ S. 155) ist unter anderem stark geprägt vom Denken Edmund Husserls, Martin Bubers und Marshall McLuhans (→ S. 86). Letzterer wiederum weist ebenfalls deutliche phänomenologische Einflüsse auf, steht aber in einer anderen Tradition.
3) Es kann nicht verwundern, dass sich bei einer solchen Gemengelage Theorien unterschiedlichster Reichweite und Herkunft bis zur Unkenntlichkeit durchdringen und vermischen. Dies gilt für ganz andere Theorien allerdings nicht weniger, und es bedarf wohl nicht einmal der Erwähnung, dass der folgende Ausschnitt aus der Geschichte der Medientheorien vereinfachend ist und nicht der tatsächlichen Komplexität von Einflussnahmen und Geltungsansprüchen in den Medientheorien gerecht werden kann.
4) Ein einführendes Lehrwerk wie das vorliegende muss den Versuch unternehmen, so gut es eben geht, sowohl das große Ganze im Auge zu behalten als auch einige ausgewählte Ansätze weitestgehend präzise und verständlich darzustellen. Hier wird die Auswahl zugunsten einiger besonders fruchtbarer und anregender medienphilosophischer Theorien im engeren Sinne getroffen werden.
[24]
Abbildung 2: Einige Einflüsse auf Marshall McLuhan und Vilém Flusser
Verwirrende Disziplinen
Wann immer im deutschsprachigen Raum eine internationale Konferenz zu medientheoretischen Fragen stattfindet, muss den ausländischen Teilnehmern erst einmal eine verwirrende deutsche Terminologie erklärt werden, die einer ebenso wirren Geschichte der theoretischen Auseinandersetzung und wissenschaftlichen Beschäftigung mit Medien entspricht.
Zeitungswissenschaft/Kommunikationswissenschaft
Den Beginn einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Medien in Deutschland markiert die Gründung des zeitungswissenschaftlichen Instituts an der Universität Leipzig 1916. Dass man sich damals entschloss, sich den Printmedien wissenschaftlich zuzuwenden, dass man sie überhaupt in ihrer Medialität zu erfassen begann, dürfte durchaus mit dem Aufkommen der technischen Bilder (Fotografie seit 1826, Film seit 1888)[25] und den elektrischen Medien (Telegrafie seit 1833, Hörfunk ab 1906) zusammenhängen: Erst der Umstand, dass nun Inhalte, neuerdings sogar das gesprochene Wort, anders als in gedruckter Form verbreitet werden konnten, führte dazu, dass ein Bewusstsein dafür entstand, dass Bücher und Zeitungen ebenfalls Medien sind. Ein Gattungsbegriff wie »Medien« ergibt schließlich erst dann Sinn, wenn er mehr als eine Art enthält.
Bereits in den 1930er-Jahren begann die Zeitungswissenschaft konsequenterweise, ihre Zuständigkeit zu erweitern und auszudehnen. Der Film und der Hörfunk wurden nun ebenfalls zu ihren Forschungsgegenständen.