Klimatologie. Stefan Brönnimann
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Box 1.1
Geschichte des Klimabegriffs und der Klimatologie
Der Begriff «Klima» ist abgeleitet vom griechischen Wort für Neigung (κλíμα). Der Begriff bezieht sich vermutlich auf Zonen gleicher geographischer Breite (gleiches «solares Klima») und umfasst dabei ursprünglich mehr als nur die atmosphärischen Größen. Lange Zeit war Klimatologie eine beschreibende Hilfswissenschaft für andere Wissenschaften wie Medizin, Geologie, Botanik oder Naturgeschichte, ohne eigenes Theoriegebäude und ohne eigene Methoden. Mit Wetter und Wettervorhersage beschäftigten sich außerdem die Astrologie und Astrometeorologie; das galt vielen von vornherein als unwissenschaftlich. Sich in diesem Umfeld als wissenschaftliche Disziplin zu etablieren, war nicht leicht. Erst vergleichsweise spät, im ausgehenden 19. Jahrhundert, entwickelten sich Meteorologie und Klimatologie zu eigenständigen Wissenschaften mit eigenen Theoriegebäuden und empirischer Forschung, mit eigenen Zeitschriften und eigenen Lehrstühlen (zum Klimabegriff vgl. → Box. 1.2).
Die Klimadefinition der WMO gibt eine Zeitskala vor: Klima ist die Statistik der Atmosphäre über 30 Jahre. Klimaveränderungen wären nach dieser Definition Veränderungen zwischen zwei 30-Jahres-Perioden, während Schwankungen von Jahr zu Jahr oder von Dekade zu Dekade als Klimavariabilität bezeichnet würden. Allerdings wissen wir – wir erleben es derzeit –, dass sich Klimaänderungen auch rasch abspielen können.
Skalen von Klimaprozessen reichen von Wolkentröpfchen bis zum Globus
Hier soll eine kurze Übersicht über Zeit- und Raumskalen im Klimasystem dargelegt werden. Die Vorgänge in der Atmosphäre umspannen mehrere Größenordnungen von Raum- und Zeitskalen. Chemische und mikrophysikalische Vorgänge (vgl. → Kap. 2) spielen sich auf Skalen von Mikrometern und Sekundenbruchteilen ab, Änderungen in den Erdbahnparametern (vgl. → Kap. 10) wirken sich global und auf Skalen von zehn- bis hunderttausend Jahren aus. Es gibt aber einige für die Meteorologie und Klimatologie typische Skalen, und diesen typischen Skalen können typische Prozesse zugeordnet werden und umgekehrt (→ Abb. 1-4): Turbulenz ist ein Phänomen auf der Skala von Sekunden oder Metern. Etwas größer sind Thermikblasen oder Konvektion (vgl. → Kap. 4). Gewitter oder Stadteffekte (vgl. → Kap. 8) spielen sich auf der Skala von Stunden und von 10–20 km ab. Wettersysteme (vgl. → Kap. 5) und Fronten dominieren auf der Skala von 1000–2000 km im Zeitraum von 2–3 Tagen. Es zeigt sich, dass in der Atmosphäre Raum- und Zeitskalen stark miteinander korreliert sind: Kleinräumige Vorgänge sind oft von kurzer Dauer, großräumige oder globale Prozesse lang anhaltend.
Raum- und Zeitskalen atmosphärischer Prozesse sind korreliert, äußere Einflüsse folgen nicht dieser Korrelation
Für ozeanische Vorgänge (vgl. → Kap. 7) könnte ein sehr ähnliches Diagramm gezeichnet werden. Auch hier wären Raum- und Zeitskalen korreliert, allerdings wären die Vorgänge nach rechts verschoben (hin zu längeren Zeitskalen). Ozean und Atmosphäre sind durch Kopplungsprozesse (Rhomben) miteinander verbunden, wodurch Schwankungen auf unterschiedlichen Skalen hervorgerufen werden können.
Bei externen Klimafaktoren (dargestellt mit Rechtecken) sind Raum- und Zeitskalen nicht immer korreliert. Landnutzungsänderungen können beispielsweise sehr lokal sein, aber über lange Zeit wirken. Umgekehrt kann ein starker Sonnensturm für kurze Zeit die globale Mesosphäre betreffen (vgl. → Kap. 10).
Energiekaskaden beschreiben, wie über viele Skalen hinweg Energie ausgetauscht wird
Die atmosphärischen Prozesse auf verschiedenen Skalen sind miteinander verbunden. Um den Gedanken des Klimasystems als Wärmemaschine weiterzutreiben, deren Aufgabe es ist, Energieungleichgewichte auszugleichen, können wir von «Energiekaskaden» sprechen. So treibt der großräumige Temperaturgradient die globale Zirkulation an, auf der kontinentalen Skala bilden sich planetare Wellen, in welche wiederum Sturmsysteme eingebettet sind. In diesen Systemen findet der Energieaustausch letztlich durch Durchmischung und turbulente Diffusion statt. Umgekehrt können sich kleinere Konvektionszellen (Zirkulationszellen mit warmer aufsteigender Luft in der Mitte und kühlerer absinkender Luft an den Rändern) miteinander verbinden und zu großen Systemen anwachsen, welche wiederum die großräumigeren Verhältnisse beeinflussen.
Abb. 1-4 |Raum- und Zeitskalen von atmosphärischen Prozessen (blaue Ellipsen), Klimaschwankungen (Rhomben) und von externen Einflussgrößen auf das Klimasystem (Rechtecke). Die Raum- und Zeitskalen sind nicht linear (vgl. Brönnimann 2015).
Klima umfasst Prozesse mit unterschiedlichen Raum-Zeit-Beziehungen
Das Verständnis des Klimasystems erfordert daher die Betrachtung von Prozessen auf ganz unterschiedlichen Skalen. Dies ist eine große Herausforderung für die numerische Modellierung, aber auch für das Verständnis von Skalen-Interaktionen. So können gleichzeitige Vorgänge auf ganz unterschiedlichen Skalen oft nicht gleichzeitig modelliert werden, selbst wenn sie physikalisch verstanden sind (vgl. → Kap. 9).
In diesem Schema befasst sich die Klimatologie zwar mit den längeren Zeitskalen (alle grauen Felder), während die Meteorologie die kürzeren Schwankungen (blau) betrachtet. Allerdings lassen sich die grauen Felder ohne die blauen nicht verstehen. Außerdem können auch die Prozesse auf den kürzeren Skalen langfristig schwanken.
1.3 | Das Klimasystem
1.3.1 | Systembegriff und Sphären
Klima kann als System konzeptualisiert werden
Das Klima wird oft als komplexes System bezeichnet. Es umfasst unterschiedliche, miteinander wechselwirkende Bereiche. All diese Beziehungen im Detail zu erfassen, ist kaum möglich. Mit dem Systembegriff wird eine vereinfachte Gesamtsicht angestrebt. Systeme sind konzeptionelle Vereinfachungen der komplexen Realität. Früher dienten sie als gedankliches Werkzeug. Systeme konnten konzeptionell in Teilsysteme zerlegt und so besser untersucht werden. Heute sind Systeme auch abgebildet in Klimamodellen (vgl. → Kap. 9), welche oft als Verbund von Teilmodellen modular aufgebaut sind. Die komplexesten Modelle werden als Erdsystemmodelle bezeichnet, was die Systemsicht deutlich macht.
Box 1.2
Alexander von Humboldts Klimadefinition
Eine der ersten Klimadefinitionen stammt vom Geographen und Naturforscher Alexander von Humboldt (→ Abb. 1-5). In seinem «Kosmos» (1845) stellte er den Menschen in den Mittelpunkt seiner Klimadefinition (S. 345):
«Der Ausdruck Klima bezeichnet in seinem allgemeinen Sinne alle Veränderungen in der Atmosphäre, die unsere Organe merklich afficieren: die Temperatur, die Feuchtigkeit, die Veränderungen des barometrischen Druckes, den ruhigen Luftzustand oder die Wirkungen gleichnamiger Winde, die Größe der electrischen Spannung, die Reinheit der Atmosphäre oder die Vermengung mit mehr oder minder schädlichen gasförmigen Exhalationen, endlich den Grad habitueller Durchsichtigkeit und Heiterkeit des Himmels, welcher nicht bloß wichtig ist für die vermehrte Wärmestrahlung des Bodens,