Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe. Группа авторов

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe - Группа авторов страница 10

Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe - Группа авторов

Скачать книгу

target="_blank" rel="nofollow" href="#fb3_img_img_8813c6ab-00bf-5b18-9b5b-71c5a4f33597.jpg" alt="images"/>Ebenso begrenzt sind die Versuche, aus den Erzählungen und Selbstdeutungen, die z. B. die Familienmitglieder anbieten, zu einem umfassenden bzw. ausreichenden Verstehen zu gelangen. Die Vermutung, dass für eine Familie in lang andauernder Krise „Dichtung und Wahrheit“, also gezielte Konstruktion eines gewünschten Lebenslaufs und verarbeitende Deutung realer Erfahrungen und Ereignisse nur noch schwer zu trennen sind, bedingt die Notwendigkeit systematischen Zusammentragens von Daten, Fakten, realen Lebensereignissen. Dann besteht die Aufgabe darin, diese vor dem Hintergrund kindlicher Bedürfnisse möglichst objektiv zu bewerten.

      Im eingangs geschilderten Fall verspricht erst eine Kombination und Ergänzung beider Erhebungsstrategien eine weiterführende Erkenntnis; es geht um analytisches Durchblicken und systematisches Dokumentieren ebenso wie um offenes und einfühlendes Verstehen.

      Komplexität reduzieren

      Den Blick fokussieren

      Nach der Perspektiverweiterung muss die entfaltete Komplexität durch Verteilungsparameter, Klassifikation/Typologie, Rekonstruktion von Mustern etc. wieder auf ein bearbeitbares, handlungsorientiertes Maß reduziert werden (= Schließung).

      Problem: Rationalität und Legitimität der Verfahren zur Informationsverdichtung

      In der nächsten Arbeitsphase jedes Forschungs- und Diagnoseprozesses geht es darum, die eröffnete Vielschichtigkeit und Komplexität wieder auf ein überschaubares und handlungsorientiertes Maß zu reduzieren. Die erweiterten Kenntnisse und Einblicke aus Informationen und Daten, wie sie durch Erhebungslisten, Untersuchungen, Befragungen, Interviews oder Gesprächen gewonnen wurden, müssen wieder „sinnvoll“ verdichtet werden. Auch für diesen Schritt des Erkenntnisgewinns stehen je nach Datenlage unterschiedliche Verfahren und Methoden zur Auswahl:

      imagesStatistische Verteilungsparameter herausarbeiten, wie Mittelwerte, Standardabweichungen, Korrelationen etc.

      imagesZuordnung und Abgleich mit Normalitätskonzepten, z. B. altersgemäße Stufen körperlicher, psychischer oder sozialer Entwicklung, um ggf. den Grad der Abweichung festzustellen

      imagesRekonstruktion von Mustern und Regeln in der subjektiven Gestaltung von Lebenslauf und der Bedeutung von Lebensthemen

      In der medizinisch-psychiatrischen und z. T. auch psychologischen Diagnostik werden eher die ersten beiden Strategien verwandt, in anderen Richtungen der Psychologie und auch in der psychoanalytischen sowie (sozial-)pädagogischen Deutung wird den qualitativen Strategien mehr zugetraut. Jede diese Strategien zur Reduktion von Komplexität hat ihre Vor- und Nachteile, alle führen zu Verkürzungen und bilden die zuvor noch möglichst vielfältig erfasste Wirklichkeit nur begrenzt ab. Aber genau das ist ihre Aufgabe, ohne eine Verdichtung und Verkürzung auf „das Wesentliche“ verstellt die Vielzahl der Informationen den Blick oder das gewonnene Wissen bleibt additiv nebeneinander stehen.

      Eine Schwäche sozialpädagogischer Deutungsprozesse ist nicht selten, dass für diese unumgängliche Arbeitsphase der Zusammenfassung und Interpretation zuvor gesammelter Informationen und Einschätzungen keine ausreichend gesicherten und anerkannten Verfahren genutzt werden. So kann der Eindruck entstehen, die Zusammenfassung und Deutung seien zufällig und subjektiv. In Beratungen und Fallbesprechungen ist z. B. häufiger zu erleben, dass sozialpädagogische Fachkräfte in unsicheren Deutungssituationen dazu neigen, die Komplexität wieder vervielfältigen zu wollen. Wenn die Einschätzung einer Familie oder der Lebenssituation eines Kindes auf eine zusammenfassende Deutung drängt, man sich aber unsicher ist, tauchen häufiger solche Fragen auf: „Haben wir denn schon genug gesehen, haben wir schon alles erfragt, was wichtig sein könnte, müssen wir uns nicht noch mehr Informationen beschaffen?“ So richtig es sein kann, in der Deutung und Interpretation auf bisher nicht gestellte Fragen zu stoßen, für deren Beantwortung mehr und neue Informationen gebraucht werden, so falsch ist es, sich auf diese Weise vor einer ggf. folgenreichen Deutung und der damit einhergehenden professionellen Verantwortlichkeit „zu drücken“.

      Deutlich wird, dass eine umfangreiche Informationssammlung allein noch keine fallverstehende bzw. diagnostische Erkenntnis ist, auch wenn diese durchaus darin „verborgen“ sein kann. Erst durch Zusammenfassung, das Herstellen von Zusammenhängen und durch Interpretation werden aus gesammelten Informationen neue Erkenntnisse oder Diagnosen. Wie in den jeweiligen Forschungs- oder Diagnosestrategien diese Reduktion von Komplexität methodisch bearbeitet und auf welche theoretischen Konzepte für die Erklärung von Zusammenhängen dabei zurückgegriffen wird, ist daher ebenso entscheidend für die Qualität und praktische Brauchbarkeit der Verfahren wie die Vielfalt der erhobenen Informationen und die konkret genutzten Instrumente. Nur Informationen, die auch gedeutet werden, können verstanden werden und somit zur Erkenntnis und Hypothesenbildung beitragen.

      Das Grundproblem aller Interpretationsleistungen bleibt aber trotz aller methodischen Ausgewiesenheit und theoretischen Begründung die Subjektivität jeder menschlichen Deutung. Dies gilt für die Ausdeutung statistischer Kennzahlen ebenso wie für das Verständnis biografischer Interviewpassagen. Die unterschiedlichen diagnostischen Verfahren unterscheiden sich in der Begründung und Anwendung insbesondere darin, wie sie versuchen, den „subjektiven Faktor“ durch Methodik zu kontrollieren, ob eher durch Begrenzung bis hin zum behaupteten Ausschluss oder durch gezielte Ausbildung, Pflege und Nutzung (vgl. anschaulich: Hege 2001; Kap. 5).

      Handlungsoptionen begründen und Handlungssicherheit stärken

      Konsequenzen aus den gewonnenen Erkenntnissen ziehen, d. h. Handlungsoptionen begründen und entscheiden

      Problem: ausreichende Konkretheit von Erkenntnissen für Handeln und ethische Verantwortung für deren Nutzung

      Die abschließende Aufgabe jedes Erkenntnisprozesses ist es, mögliche Verwertungen abzuwägen. Die Erwartung und ggf. auch der Druck, zu verwertbaren Ergebnissen zu kommen, sind unterschiedlich. Wissenschaftliche Erkenntnisprozesse der Grundlagenforschung unterliegen dabei anderen Verwertungsinteressen als solche in finanzierter Auftragsforschung oder eben eines fallanalytischen Erkenntnisgewinns im Rahmen jugendhilferechtlicher Aufgaben. Gerade in der konkreten Fallbearbeitung ist es dabei ganz wesentlich, dass das systematische Verstehen und Diagnostizieren in konkrete nächste Handlungsideen für den weiteren Fallverlauf mündet. Ebenso müssen die genutzten Konzepte sowohl fundiert und nachvollziehbar wie robust und alltagstauglich sein. Allen Erkenntniszusammenhängen gemein ist allerdings, dass es „wertfreie“ Erkenntnisse nicht gibt, sondern jede/r ForscherIn und jede/r „DiagnostikerIn“ spätestens an dieser Stelle nicht nur mit der wissenschaftlichen oder professionellen Verantwortung für die Grundlagen und Instrumente, sondern auch mit der ethischen und/oder fallbezogenen Verantwortung für die Ergebnisse konfrontiert ist.

      Neben der Frage, wie Erkenntnisse in professionellen Zusammenhängen gewonnen werden, ist auch bedeutsam, was für den zentralen Gegenstand des Erkenntnisprozesses gehalten wird. Was ganz konkret muss verstanden werden in der Sozialen Arbeit bzw. der Einzelfallarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe? Der Gegenstand fallanalytischer Prozesse wird in diesem Kapitel genauer beschrieben (Kap. 2.2.3): Was ist der Fall?

      Vorgeschaltet wird der Frage zum besseren Verständnis die Einordnung von Fallverstehen und Diagnostik in die Tradition der Einzelfallarbeit (

Скачать книгу