Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe. Группа авторов

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Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe - Группа авторов

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und gegenstandsbezogene Fragen von Fallverstehen und sozialpädagogischer Diagnostik

      Der in Kapitel 1 geschilderte Fall macht deutlich, dass für Fachkräfte Sozialer Arbeit eine Vielzahl von Fragen zu bearbeiten sind, um in einem Fall wie z. B. der Familie Kramer zu klären, welche Unterstützung benötigt wird und ob gleichzeitig aus Sicht der Fachkräfte gesichert ist, dass die Kinder maßgeblich durch ihre Eltern ausreichend gut versorgt werden, sowohl real als auch emotional und entwicklungsbezogen. Für die Arbeit mit Familie Kramer ist z. B. zu klären, ob die Großmutter noch ausreichend Kraft dazu hat, die beiden pubertierenden Enkeltöchter zu erziehen, oder ob die Mädchen bei ihrer Mutter wirklich einen Ort finden würden, an dem sie weiter heranwachsen und leben können. Ist die Mutter ausreichend zugewandt, zuverlässig und auch in der Zusammenarbeit mit den Fachkräften kooperativ? Und was brauchen und wollen die Mädchen?

      Fallunabhängig und disziplinbezogen stellen sich hinsichtlich der Einzelfall­arbeit zwei wesentliche Grundfragen, mit denen sich dieses Kapitel beschäftigt. Der Blick wird erstens darauf gerichtet werden, wie sich Erkenntnisgewinn in der Sozialen Arbeit überhaupt vollzieht und welche methodischen Anforderungen sich stellen, und zweitens, was genau der Gegenstand des Erkenntnisprozesses ist. Angesprochen werden dabei zudem einige generelle Fragen methodischen Handelns in der Sozialen Arbeit.

      Unabhängig von einem spezifischen Konzept für Fallverstehen und Diagnostik geht es bei der Analyse und Erforschung sozialer Phänomene immer um die Erklärung, auf welchen professionellen Wegen neue Einsichten gewonnen und somit erkenntnistheoretische Grundfragen beantwortet werden. Einige Ausführungen zur grundsätzlichen Problematik des Erkenntnisgewinns und der Deutung sozialer Sachverhalte und Prozesse leiten dieses Kapitel ein, sodass besser eingeordnet werden kann, wie das hier vorgestellte Konzept diese grundsätzlichen Fragen berücksichtigt.

      Wahrnehmung folgt unbewussten Routinen

      Menschliche Wahrnehmung folgt im Alltag einem Automatismus. Menschen nehmen – geleitet durch die eigene Aufmerksamkeitsrichtung – in ihrer Umgebung etwas wahr und verbinden damit unbewusst direkt eine Deutung bzw. Bewertung, meist auch ein Gefühl: Eine rote Ampel löst direkt die Bewertung aus, stehenbleiben zu müssen und zu warten. Ein Gefühl von Sicherheit („Ich weiß, was zu tun ist.“) oder von Unmut („Ich werde reglementiert, obwohl die Straße weit und breit leer ist.“) kann damit verbunden sein. Ein unbekannter Mensch betritt den Raum und wird von einem Anwesenden als fremd, aber z. B. zugleich als sympathisch wahrgenommen. Eine Lehrerin sieht im Winter ein Kind mit zu dünner Jacke den Klassenraum betreten und stellt kurz darauf fest, dass es auch kein Frühstück dabei hat. Schnell kommt ihr die Assoziation, dass die Eltern das Kind nicht gut im Blick haben.

      Menschliches Erleben und Verhalten wird somit geleitet von subjektiv geprägten Wahrnehmungen, damit verbundenen Bewertungen sowie Emotionen. Dies ermöglicht Menschen durch entwickelte Routinen, den eigenen Alltag und dessen vielfältige Anforderungen zu bewältigen, Prozesse des Nachdenkens werden abgekürzt. Gleichzeitig aber verengt es den eigenen Blick und klammert insbesondere Deutungen aus, die jenseits der eigenen Wahrnehmungsroutinen liegen. Die eigene Sichtweise wird schnell für die richtige oder einzig denkbare gehalten, weil der Blick nicht systematisch geweitet und bedacht wird, wie ein Phänomen oder ein sozialer Sachverhalt noch interpretiert werden könnte. Professionelles Wahrnehmen und Deuten sowie wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn müssen dies jedoch bewusst und für Dritte nachvollziehbar tun, um die Vielfalt an Perspektiven auf eine Situation zu entfalten und sukzessiv Hinweise darauf zu finden, wie etwas fachlich eingeschätzt werden kann und ob diese fachliche Bewertung (verstanden als Hypothese) einer intersubjektiven Überprüfung standhält. Gleichzeitig gilt es, gerade in der Praxis Sozialer Arbeit, für diesen Prozess methodische Wege zu finden, die im Berufsalltag machbar sind und Fachkräfte handlungsfähig sein lassen, insbesondere in Belastungs- und Krisensituationen, in denen Zeit ein wichtiger Faktor ist. Das Grundproblem ist also der Umgang mit Komplexität.

      Grundproblem: Erhöhung und Reduktion von Komplexität

      Wie jeder Prozess empirischen Erkenntnisgewinns, so haben auch Prozesse des Fallverstehens oder der Diagnose ein erkenntnislogisches Grundproblem zu lösen (vgl. hierzu z. B. Wright 2008; Eberhard 1999; Kron 1999; als Einführung: Dewe/Otto 2018).

      imagesZuerst muss der „analytische Blick“ erweitert, die Komplexität erhöht werden, damit überhaupt etwas Neues gesehen und wahrgenommen werden kann und nicht nur schon Bekanntes bestätigt wird.

      imagesIst auf diese Weise ausreichend Material für erweiternde Erkenntnisse gewonnen, muss der Blick wieder enggeführt werden, um aus der Vielfalt der Wahrnehmungen die für zentral gehaltenen Zusammenhänge herauszuarbeiten. Gelingt diese Reduktion von Komplexität nicht, so verschwinden mögliche Befunde in einer Vielzahl unverbundener und unverstandener Beobachtungen.

      Dieses Grundproblem (Abb. 3) trifft gleichermaßen für analytisch-quantifizierende wie für hermeneutisch-qualitative Forschungs-, Verstehens- und Diagnoseprozesse zu. Durch geregelte Arbeitsabläufe und rationale Methoden muss in jedem Falle gesichert werden, dass Erkenntnisse systematisch gewonnen und nachvollziehbar begründet herausgearbeitet werden (vgl. einführend: Bock/Miethe 2018; Micheel 2018).

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      Für den Ablauf und die Methodik fallanalytischer Prozesse in der Sozialen Arbeit soll versucht werden, die Bedeutung dieser erkenntnislogischen Problematik und sich daraus ergebende, handlungsbezogene Fragen mit Bezügen zur Fallgeschichte der Familie Kramer anschaulich zu machen.

      der „erste Eindruck“

      Der „erste Eindruck“ lenkt den Blick.

      Problem: einseitige, weil nicht bewusste Fokussierung und Steuerung der Wahrnehmung und Interpretation

      Am Anfang jedes fallanalytischen bzw. diagnostischen Prozesses, wie distanziert der erste Kontakt auch sein mag, steht immer ein erster Eindruck, eine Anfangsidee über mögliche Zusammenhänge und Begründungen. Entscheidend ist, dass solche ersten Eindrücke und Ideen als Ausgangshypothesen bewusst werden, denn sie lassen aufmerksam werden und steuern den Blick der Erkenntnis, repräsentieren aber gleichzeitig auch nur eine Sicht der „Wirklichkeit“.

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      Die ersten Eindrücke im Fall der Familie Kramer lenken den Blick der neu zuständig werdenden Fachkraft sehr auf die Großmutter, die eine sich kümmernde, aber nach dem Tod ihres Mannes doch zunehmend erschöpfter werdende Frau zu sein scheint. Sie tut alles dafür, ihre beiden Enkeltöchter gut aufwachsen zu lassen und die Unzuverlässigkeit der Mutter der Mädchen ausgleichen zu wollen. Die Mutter von Elsa und Maria hat mit Ende 20 die beiden Töchter geboren, die Väter sind zwei unterschiedliche Männer – „und das in kurzem Abstand“. Frau Kramer junior ist psychisch labil, kann die Töchter nach der Trennung von ihren Partnern nicht allein versorgen, die Großmutter springt ein. Die Mutter der beiden Mädchen, „funkt aber immer wieder dazwischen“, lässt die Kinder bei der Oma nicht zur Ruhe kommen. Zwischenzeitlich leben die beiden Mädchen für kurze Zeiten bei ihr, dann aber ist Frau Kramer junior „auch mal wieder einige Wochen in der Psychiatrie“. Die beteiligten PädagogInnen interessieren sich zunächst vor allem für das erzieherische Unvermögen der Kindsmutter und ihre psychischen

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