Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe. Группа авторов

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Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe - Группа авторов

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Begrifflichkeiten für diese Prozesse (Kap. 2.2.2).

      Einzelfallarbeit in den erzieherischen Hilfen

      In der Kinder- und Jugendhilfe stehen häufig Einzelfälle im Mittelpunkt. Bei der Einzelfallarbeit in den erzieherischen Hilfen geht es vor allem darum, Kinder, Jugendliche und ihre Familien in Belastungs- und Krisensituationen zu unterstützen. Das SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz) wird dabei von der Grundannahme geleitet, dass das Aufwachsen von Kindern sowie die damit verbundenen Aufgaben der Versorgung und Erziehung junger Menschen durch ihre Eltern in einer zunehmend individualisierten und pluralisierten Gesellschaft komplex und mitunter kompliziert sind. Sie können für die Beteiligten schwierig werden, weshalb der Gesetzgeber in bestimmten Lebenssituationen die Unterstützung durch die „staatliche Gemeinschaft“ als selbstverständlich ansieht. Anders als in früheren Gesetzen (z. B. dem Jugendwohlfahrtsgesetz als „Vorgänger“ des SGB VIII) geht unsere Gesellschaft und Gesetzgebung heute davon aus, dass es generell bestimmter Leitungen bedarf, die familiäres Zusammenleben unterstützen, weil die Anforderungen an Eltern und Familien groß sind. Unterschieden werden dabei Angebote der sozialen Infrastruktur wie z. B. Kindertageseinrichtungen, Jugendzentren oder Familienbildungsstätten, von Angeboten, die in spezifischen Belastungssituationen zum Tragen kommen. Für letztere gilt ein individueller Rechtsanspruch, sofern ein „erzieherischer Bedarf“ vorliegt, den der öffentliche Träger der Jugendhilfe, das Jugendamt, im Rahmen der Hilfeplanung gem. § 36 SGB VIII prüft (vgl. Kap. 4.2.1).

      Diese Arbeit im bzw. mit dem Einzelfall hat in der Sozialen Arbeit eine lange Tradition (Galuske 2013; Müller 2012; von Spiegel 2018). Neben der Arbeit mit Gruppen und der Gemeinwesenarbeit zählt sie als dritte Form methodischen Handelns zur klassischen Methodentrias der Sozialen Arbeit. Obwohl es mittlerweile auch andere Ordnungsvorschläge für die vielfältigen Handlungskonzepte und Methoden gibt (Galuske/Müller 2012), ist unbestritten, dass der Bezug zum (Einzel-)Fall für Profession und Disziplin grundlegend ist. Als „Fall“ ist dabei nicht nur die Arbeit mit einer einzelnen Person zu bezeichnen, sondern auch die Arbeit mit einer Gruppe, einem System oder einer Organisation. Fallarbeit bzw. die Gestaltung derselben beschäftigt sich in dem Zusammenhang mit der Frage, wie in einem Fall professionell, d. h. vor allem systematisch und methodengeleitet, gearbeitet werden kann.

      Hier unterscheidet sich Fallarbeit in der Sozialen Arbeit von der Einzelfallarbeit anderer Professionen durch ihren Gegenstand. Anders als z. B. in der Medizin, ist für die Soziale Arbeit der andere Mensch das Gegenüber und nicht alleine bzw. vorrangig der gebrochene Arm des anderen Menschen. Der sozialpädagogische Blick auf einen Fall bzw. auf die beteiligten Menschen ist somit in seinem Fokus weiter und damit auch komplexer als andere professionelle Perspektiven. Er sieht den ganzen Menschen in seiner Eigen-Sinnigkeit, seinem Gewordensein und seinem Lebenskontext. Dieser Blickwinkel auf einen Fall macht die Soziale Arbeit als Beruf enorm spannend und zugleich komplex und kompliziert. Dazu trägt bei, dass Fallarbeit immer auch ein Beziehungsgeschehen ist, zwar gerahmt durch einen professionellen Auftrag und ein Handlungsmandat, aber doch letztlich immer ein Interaktionsgeschehen mit all seinen Dynamiken, Wechselwirkungen und Emotionen zwischen den beteiligten AkteurInnen.

      Handlungs­orientierung

      Inhaltlicher Kern der Fallarbeit ist die Unterstützung von Menschen in spezifischen Lebenssituationen und in den von ihnen mehr oder weniger konkret eingebrachten Anliegen und Fragen. Die Handlungsorientierung ist somit ein weiteres Kennzeichen der Fallarbeit in der sozialen Praxis, wobei das professionelle Handeln und vor allem dessen Erfolg nur begrenzt planbar sind. Dies liegt zum einen an der Autonomie und dem prinzipiellen Eigen-Sinn von Menschen, die Adressat­Innen Sozialer Arbeit sind, zum anderen an der Komplexität sozialer Situationen sowie der Eigendynamik, die in ihnen liegt und sich situativ entfaltet. Hans Thiersch bezeichnet dies als die strukturelle Unsicherheit sozialpädagogischen Handelns (Thiersch 2002), deren professionelle Gestaltung und Balancierung eine wesentliche Kompetenz sozialpädagogischer Fachlichkeit ausmacht. Menschen, auch SozialpädagogInnen und SozialarbeiterInnen, haben es gern eindeutig und klar – aber: Die Wirklichkeit und Vielfalt menschlicher Lebensvollzüge gibt eine solche Eindeutigkeit selten her. Hohe Komplexität und Handeln in Ungewissheiten sind der Normalfall, da Situationen und Prozesse immer gekennzeichnet sind durch mehrdeutige Verhältnisse und subjektiv jeweils berechtigte Realitäten und Wirklichkeitsdeutungen. Daraus folgt für soziale Situationen, die professionell zu gestalten sind: Es gibt

      imageskeine eindeutige Zuordnung von Ursachen und Wirkungen, von Problemen und Lösungen,

      imageseine immer nur begrenzte Aussagefähigkeit einmal gewonnener Erkenntnisse für zukünftige Entscheidungen und

      imageseinen ebenso begrenzten professionellen Einfluss auf das Ergebnis, d. h. die Wirkung von professionellen Entscheidungen und Handlungen (Schrapper 1994).

      „Technologiedefizit“ Sozialer Arbeit

      Auf Niklas Luhmann (Luhmann/Schorr 1982) geht in diesem Kontext das Stichwort des „Technologiedefizits“ zurück, mit dem umschrieben wird, dass Handeln in der professionellen Zusammenarbeit mit anderen Menschen nicht linear planbar ist und vor allem oftmals nicht genauso so verläuft wie gewünscht. Handlungsorientiertes Wissen in der Sozialen Arbeit besteht also nicht aus „Kochrezepten“, die angewandt werden, sondern aus einem Kanon an Fachwissen, das in strukturell ungewissen Situationen für das Verstehen, Deuten und Intervenieren nachvollziehbar und begründbar eingesetzt werden kann. Nur so können Fachkräfte letztlich der Einzigartigkeit jeder Handlungssituation gerecht werden, was sie gleichzeitig nicht davon entbindet, das eigene Tun theoriebasiert zu erklären und den Einzelfall auch unter dem Aspekt des „Allgemeinen“ (Theoriewissen) einzuordnen.

      Die Kernaufgaben und Arbeitsschritte für eine qualitativ hochwertige Fall­arbeit in der Sozialen Arbeit sind durch die methodischen Schritte planvollen Handelns an verschiedenen Stellen umfangreich beschrieben. Als grundlegendes Werk dazu kann immer noch Burkhard Müllers „Sozialpädagogisches Können“ (Müller 2012) angeführt werden, in dem er die Handlungsphasen der Fallarbeit „Anamnese, Diagnose, Intervention und Evaluation“ ausführlich beschreibt. Eine neuere, anschauliche Ergänzung und Differenzierung dazu findet sich bei Haye/Kleve (2002). Der zentrale Schlüsselprozess in jeglicher Fallarbeit ist dabei das Wahrnehmen, Verstehen und Deuten sozialer Situationen. Denn ein Problem, das nicht erkannt und verstanden ist, kann auch nicht gelöst werden.

      Zum besseren Verständnis soll vorab beschrieben werden, wieso in dem hier vorgestellten Konzept von Fallverstehen und sozialpädagogischer Diagnostik gesprochen wird. Andere Begriffe sind im derzeit nach wie vor bunten Diskurs ebenfalls zu finden (Soziale Diagnostik, Soziale Diagnose, Psychosoziale Diagnostik, Sozialpädagogische Diagnose etc.), hier eint Disziplin und Profession die Uneinigkeit bzw. die mangelnde Verständigung auf gemeinsame Begriffe – zu uneindeutig scheint dafür derzeit das Konzert der Konzepte (vgl. Buttner u. a. (Hrsg.) 2018).

      leitendes Begriffsverständnis

      Warum werden in diesem Konzept die Begriffe sozialpädagogisch, Fallverstehen und Diagnostik verwendet?

      Seit ihren Anfängen im ausgehenden 19. Jahrhundert ist das Feld der Jugend­wohlfahrt – heute Kinder- und Jugendhilfe – ein bedeutsames Handlungsfeld der wissenschaftlichen Disziplin Sozialpädagogik und damit in einer Theorietradition der Begründung, Konzeption und Reflexion von Erziehung, (Selbst-)Bildung und Emanzipation im Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft verortet (Mollenhauer 1996).

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