Sozialpädagogische Diagnostik und Fallverstehen in der Jugendhilfe. Группа авторов
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Die zu Beginn des Verstehens eher vorbewusste, notwendige und zugleich verengende Fokussierung lässt sich gut an einer möglichen, andersartigen Interpretation des Falles zeigen:
Gesehen werden könnte Frau Kramer junior auch als erwachsene Frau, die über die eigene Lebensgeschichte psychisch erkrankt ist, aber versucht, ihre Töchter emotional nicht an deren Großmutter zu verlieren. Ihr Leben war für die Mutter von Elsa und Maria schon immer schwierig. Ihr Vater hat viel getrunken, ihre Eltern hatten oft lauten Streit, manchmal auch körperliche Auseinandersetzungen. Ihre Mutter hat sich dann oft zurückgezogen, war manchmal sogar ein paar Tage weg und hat sich dann nicht um sie gekümmert. Dann war sie mit dem Vater allein, der oft grob war und nicht verstehen konnte, dass sie die Mutter vermisst hat. Essen gab es dann auch nicht regelmäßig. Ihr hat er dann die Schuld gegeben, dass die Eltern sich so oft gestritten haben. Jetzt will sie für ihre Töchter eine gute Mutter sein, aber die eigene Mutter weiß es immer besser, hat es sogar geschafft, dass die Töchter schon seit Jahren bei ihr groß werden. Die Leute vom Jugendamt hat sie auch davon überzeugt, dass das richtig sei. Die Kinder hat man ihr weggenommen, obwohl sie die beiden sehr liebt. Wenn – so die Sicht der Mutter – die Profis doch nur sehen könnten, dass die Großmutter eigentlich Schuld ist an dem ganzen Problem, „weil sie mich als Kind nicht gesehen und manchmal allein gelassen hat. Da musste ich mir eine andere Welt schaffen und jetzt komme ich manchmal nicht klar. Aber zum Glück habe ich meinen neuen Partner kennen gelernt. Mit ihm kann es vielleicht gut gelingen, auch mit den Mädchen. Und manchmal hilft mir ja auch meine Mutter“.
Auch diese mögliche Lesart des Falls ist zunächst nur eine Perspektive, der die Fachkräfte folgen könnten. Sie zeigt, wie bedeutsam und folgenreich unterschiedliche Wahrnehmungen und eher assoziative Deutungen für die eigene Einschätzung sein können. Die ersten Anfangsvermutungen, ob Frau Kramer junior z. B. als „schlechte, psychisch erkrankte Mutter“ zu sehen ist oder als „am Unvermögen und der Vernachlässigung durch die eigenen Eltern krank gewordene Frau, die in emotional stabilen Phasen alles daransetzt, sich gut um ihre beiden Mädchen zu kümmern“, sagen mehr über die jeweils eigene Sicht der Dinge, jedoch wenig über das tatsächliche Geschehen und noch weniger über mögliche, brauchbare und tragfähige Erklärungen aus. Aber ohne diese Anfangsvermutungen kann – nicht nur in diesem Fall – aus der Vielfalt der Ereignisse und Eindrücke nichts „herausgelesen“ werden. Jede Erkenntnis hat und braucht die den Blick lenkende Steuerung des ersten Eindrucks, die sich in professionellen Zusammenhängen sicher aus der eigenen Aufgabe und dem Auftrag ergibt, aber auch aus dem persönlichen, zunächst meist assoziativen Zugang zu einem sozialen Sachverhalt. Entscheidend ist, sich der Bedeutung und Begrenztheit solcher Ausgangshypothesen bewusst zu werden.
Komplexität erhöhen
Den professionellen Blick weiten
Die Komplexität muss zunächst durch systematische oder explorative Strategien der Informationsbeschaffung erweitert werden (= Öffnung).
Problem: Kriterien und Verfahren der Datensammlung: Zugänglichkeit, Angemessenheit und Vollständigkeit
Der zweite Schritt auf dem Weg zur Erkenntnis besteht darin, von einer möglichst expliziten und reflektierten Eingangsvermutung aus den Blick zu öffnen, um den Gegenstand aus möglichst vielen Perspektiven „neu“ anschauen zu können. Angesichts der prinzipiellen Unendlichkeit möglicher Informationen besteht das zentrale Erkenntnisproblem an dieser Stelle darin, das jeweils richtige Verhältnis von Quantität und Qualität neuer Informationen zu finden: Einerseits sollen so viele neue Informationen wie möglich einbezogen werden, das Bild soll so vollständig und vielfältig wie möglich sein. Andererseits soll gewährleistet werden, dass alle relevanten Informationen auch erfasst und dokumentiert werden können, dass in der möglichen Fülle nichts „Wesentliches“ übersehen wird. Was genau braucht es an Wissen, wie viel und wann ist es genug? Aus der Methodologie wissenschaftlicher Forschung kennen wir unterschiedliche Wege, dieses Dilemma zu lösen.
Beide Strategien haben für die Aufgaben sozialpädagogischen Fallverstehens also zweifellos Stärken, zeigen aber auch deutliche Schwächen und es scheint so, als seien diese reziprok, die Stärke der ersten, die systematisch begründete Konzentration auf das Wesentliche, ist die Schwäche der Zweiten und umgekehrt. Am Fall der Familie Kramer wird deutlich, wie begrenzt jede der vorgenannten Erhebungs- und Suchstrategien für ein sozialpädagogisches Fallverstehen ist: