Wörterbuch der Soziologie. Группа авторов

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Wittgensteins) als etwas Rationales: Sie ist essentiell für das Funktionieren alltäglicher Sozialität.(2) Das Alltagswissen besteht, wie schon Alfred Schütz in seiner Sozialphänomenologie betonte, wesentlich aus stillschweigenden Annahmen, Glaubensüberzeugungen und Unterstellungen, die zu selbstverständlich sind, als dass darüber gesprochen würde: ein implizites Wissen. (3) Es ist z. T. überhaupt nicht sprachfähig, eher ein stummes körperliches Können, ein praktisches Wissen, etwas zu beherrschen, ohne genau sagen zu können, wie wir es vollziehen: etwa ein Gespräch führen (das Thema der ethnologischen Konversationsanalyse: Atkinson/Heritage 1984), eine Frau darstellen (ein Thema der ethnologischen Gender Studies: West/Zimmerman 1987), ein Klavier spielen (Sudnow 1978, eines von vielen Themen der ethnologischen studies of work: Garfinkel 1986) oder einen Text zu formulieren und zu gebrauchen (der Fokus der ethnologischen Diskursanalyse: Smith 1986). Eben diese Form des Wissens ist der Grund, von Ethnomethodologie zu sprechen. Gemeint sind die praktischen Methoden der Leute, ihre Alltagswelt hervorzubringen, ihr praktisches Wissen, Handlungen zu vollziehen. Mit diesem praktischen Wissen, wie etwas zu tun ist, vollziehen sie (wir) zugleich ihre (unsere) kulturellen Annahmen darüber, woraus die soziale Welt besteht. Die rationalitätskritische Betonung der Implizität praktischen Wissens teilt die Ethnomethodologie dabei mit anderen praxistheoretischen Ansätzen (etwa von Erving Goffman, Pierre Bourdieu oder Clifford Geertz).

      Forschungstechniken der Befremdung

      Im Versuch, stillschweigendes und körperlich vollzogenes Wissen empirisch beobachtbar zu machen, entwickelten ethnologische Studien unterschiedliche Befremdungstechniken. Fünf seien hier genannt:

      1 Die sogenannten Krisenexperimente arrangieren eine Störung der sinnhaften Normalität von Situationen durch ein Fehlverhalten, das es ihren Teilnehmern unmöglich macht zu begreifen, was gerade [105]vor sich geht, und ihre Sinnwelt wieder zu ordnen. Garfinkel forderte etwa seine Studenten auf, ihre Eltern einen Tag lang zu siezen. Das Ziel war, auf diese Weise sichtbar zu machen, welch fundamentale Erwartungen unsere Interaktionen regulieren. Die Krisenexperimente sollten dabei nicht Personen, sondern Situationen verwirren und ›verrückt‹ machen. Es stellte sich aber heraus, dass es zu den elementaren Reparaturmaßnahmen gehört, die Verwirrtheit der Situation Personen zuzuschreiben. Die Zurechnung auf Personen (»entweder der spinnt oder ich«) ist bereits eine Normalisierungsmaßnahme, mit der wir die Sinnstörung einer Situation auf Personen abschieben.

      2 Der Rückgriff auf ›Fremde in der eigenen Kultur‹ nutzt diese als Beobachtungsexperten für Normalität. Das gilt etwa für Behinderte (in den Disability Studies), die ein geschärftes Bewusstsein von der Rolle des Körpers in Arbeitsvollzügen und Kommunikation haben (etwa Länger 2002), und es gilt für Garfinkels klassische Studie über eine Transsexuelle: Ihre Außenseiterposition wirkte wie ein Vehikel, das dem Soziologen die Distanzierung von seinen erlernten Denkgewohnheiten erleichterte. Wer sich selbst nicht für normal halten kann (keinen Platz in vorgefundenen kulturellen Kategorien findet), kann auch seine Umwelt nicht so betrachten. Und die Soziologie profitiert von der Krisenhaftigkeit dieser Weltwahrnehmung durch ›unfreiwillige Soziologinnen‹.

      3 Die Konversationsanalyse arbeitet mit einem Befremdungseffekt, der durch die gewaltige Entschleunigung realzeitlicher Abläufe entsteht: Wenn sekundenkurze Sprechereignisse ›unter die Lupe genommen‹ werden, wird etwas so Vertrautes wie ein Gespräch zu einem staunenswerten Koordinationskunstwerk. Wer sich selbst einmal auf einem Tonband anhörte, alle Stotterer, Räusperer und Satzabbrüche transkribierte und deren Funktionen analysierte, versteht schnell, warum sich manche Ethnomethodologen auch Molekularsoziologen nennen und beanspruchen, wie Molekularbiologen Grundlagenforschung zu betreiben.

      4 Eine begriffsstrategische Verfremdungsmaßnahme (ähnlich Goffmans Theatermetapher) schlug Harvey Sacks, ein Kollege Garfinkels, vor, um die soziologische Aufmerksamkeit beharrlich auf die Prozesshaftigkeit und praktische Vollzugsbedürftigkeit aller sozialen Tatsachen zu lenken. Soziologen sollten alle von ihnen wahrgenommenen Zustände mit der heuristischen Annahme betrachten, sie seien methodisch hervorgebracht: ein ›doing being‹. Wenn Soziologen z. B. jemanden als »wütend« wahrnehmen, also eine spontane Motivzuschreibung vornehmen, machen sie einfach nur von Alltagskompetenzen der Dechiffrierung eines Gesichtsausdrucks Gebrauch. Sacks empfiehlt, zur Verlangsamung dieses alltäglichen Verstehens die Unterstellung dazwischenzuschieben, dass dieses Wütendsein getan wird. Wir sollen uns also fragen, wie »doing being angry« geht, wie man das also macht. Wer einen Professor vor sich sieht, sollte sich fragen, wie »doing being a professor« geht, wie man es also bewerkstelligt, als ein solcher zu erscheinen und spontan erkannt zu werden. Das ›doing‹ ist also die methodologische Maxime der Praxisforschung der Ethnomethodologie: Betrachte jedes Phänomen so, als würde es gerade erst gemacht.

      5 Gewissermaßen in Summierung dieser und anderer Techniken haben insbesondere die ethnologischen Science Studies (Lynch 1991, 1993) zu einer beträchtlichen Steigerung soziologischer Reflexivität beigetragen. Auf der Basis einer unbefangen ›ethnologischen‹ Beobachtungshaltung, einer temporären Indifferenz gegenüber Geltungsansprüchen und mit einer schamlos empiristischen Neugier auf soziale Praktiken lassen sich selbstverständlich auch soziologische Forschungspraktiken empirisch untersuchen, einschließlich der Schreib- und Formulierungspraktiken beim Verfassen eines Lexikonartikels und eines Satzes wie diesem.

      Theoretische Positionierung

      Sozialtheoretisch grenzte sich Garfinkel zunächst von Émile Durkheim ab, der soziale Tatsachen als Sachverhalte betrachtete, die unabhängig vom Erleben und Handeln gegeben sind. Die Ethnomethodologie soll genau dieses Erleben von der Faktizität des Sozialen hintergehen und das, was die Handelnden als objektiv gegeben wahrnehmen, als deren eigene praktische Hervorbringungen aufdecken. Für die Ethnomethodologie ist soziale Wirklichkeit eine reine Vollzugswirklichkeit, sie wird laufend ›verwirklicht‹. Die soziale Welt, in der wir handeln, ist die, die wir uns ›erhandeln‹ – die wir herbeireden, zurechtinterpretieren, [106]körperlich durchführen, uns gegenseitig zeigen und bestätigen.

      Gegen die strukturell-funktionale Theorie von Talcott Parsons wandte Garfinkel ein, dass dieser die Akteure als »Beurteilungstrottel« erscheinen lasse, als Marionetten, die nur mehr auszuführen haben, was ihnen ein »kulturelles System« vorschreibt. Er ignoriere damit jene Sinnstiftungsleistungen, mit denen Handelnde kulturelle Regeln laufend situieren und interpretieren, was erforderlich ist, weil Regeln die Art ihrer Befolgung nicht selbst festlegen können. Das Problem sozialer Ordnung ist für Garfinkel daher ein Dauerproblem des »Ordnens«, das Interaktionsteilnehmer stets neu zu lösen haben.

      Sie bewerkstelligen dieses beständige Ordnen, indem sie mit ihren Handlungen nicht nur die soziale Wirklichkeit einer Situation herstellen (etwa eine Warteschlange formen), sondern zugleich zum einen den Kontext dieser Situation anzeigen (etwa eine Warteschlange ›vor dem Bankschalter‹ und nicht etwa ›an der Bushaltestelle‹), zum anderen diese Praxis selbst als solche kenntlich (›accountable‹) machen (als Warteschlange und nicht als Pulk, zufällige Aufreihung, Polonaise o. Ä.). Menschliches Handeln ist insofern immer reflexiv auf sich selbst bezogen, als es immer auch metakommunikativ anzeigt, als was es verstanden sein will. Nicht nur in reflexiven ›Auszeiten‹ und nicht nur in sprachlichen Ausdrücken, die explizit bezeichnen, was man tut (z. B. »ich warne dich, das zu tun!«), auch schon in der einfachen körperlichen Orientierung beim Gehen tun Handelnde mehr als bloß eine Richtung zu nehmen: Sie zeigen an, dass sie es tun, und tragen so zur lokalen Produktion einer für alle beobachtbaren sozialen Ordnung bei.

      Einordnung der Ethnomethodologie

      Die Ethnomethodologie ist zum großen Teil eine empirische Umsetzung der Phänomenologischen Soziologie von Alfred Schütz. Zugleich hat sie mit deren bewusstseinsphilosophischen Prämissen gebrochen. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt nicht beim Subjekt, sondern in der sozialen Situation. Während Schütz den Sinn einer Handlung im vorangehenden subjektiven Entwurf des Handelnden suchte, zeigten ethnologische Studien, dass der Sinn ihrer Äußerungen erst ex post in der Interaktion mit dem Gegenüber festgelegt wird. Insofern

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