Ich hatte einen Schießbefehl. Paul Küch
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Nach dem Abendbrot verabschiedeten wir uns endgültig vom Zivilleben. Jeder Soldat erhielt einen Karton, um seine Privatklamotten nach Hause zu schicken. Am Ende dieses hektischen Tages hatte ich nur das Bedürfnis, schnell ins Bett zu kommen. Trotzdem nervte uns der UvD mit einem wissenschaftlich erprobten, minutiös geplanten Tagesdienstablaufplan, der ab sofort praktiziert werden sollte. Ich lag auf meiner Pritsche, verfluchte den Kerl mit der roten Armbinde und fragte mich, warum er die Unteroffizierslaufbahn eingeschlagen hatte? War er ein Mensch, der aus politischer Notwendigkeit drei Jahre zur Fahne ging oder ein Intellektueller, bei dem ein künftiger Studienplatz als intensives Druckmittel eingesetzt wurde? Da dieser Mann weder überzeugt noch sonderlich schlau wirkte, konnte es nur das Geld gewesen sein, das ihn zur Fahne brachte. Die vierte Möglichkeit, als Unteroffizier herauszufinden, was er im späteren Leben machen wollte, konnte ich an diesem Abend nicht mehr abwägen, denn der Schlaf übermannte mich.
Am nächsten Morgen machten die Vorgesetzten ernst, um 6.00 Uhr ertönte der erste Pfiff aus einer Trillerpfeife auf dem Flur. Das schrille Weckkommando konnte man nicht überhören. Ich sprang unverzüglich aus dem Bett, schaltete das grelle Neonlicht im Zimmer an, warf die Zudecke zum Auslüften über den vorderen Bettgiebel und streifte die knallrote Turnhose mit aufgenähter Tasche, das gelbe, gerippte Turnhemd, den braunen Trainingsanzug und die schwarzen Lederturnschuhe über. Wer gleich beim Aufstehen trödelte, handelte sich unnötige Strafrunden beim Frühsport ein. Während sich die selbstbewussten Berliner nochmal im Bett umdrehten, beeilte ich mich, aufs Klo zu kommen, weil ich einer der Ersten an den Urinalen sein wollte. Niemand mag es, den Andrang auf der Toilette in zweiter oder gar dritter Reihe abzuwarten, wenn man pinkeln muss. An der täglichen Morgengymnastik hatten alle gesunden Soldaten teilzunehmen, die Innendienstkranken mussten während dieser Zeit spazieren gehen. Drückeberger standen in dunklen Ecken und rauchten. Im Vergleich zur militärischen Körperertüchtigung (MKE) bei den Streitkräften der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) empfand ich Frühsport in Eisenach äußerst human. Die Soldaten der ruhmreichen Sowjetarmee traf ich daheim kilometerweit von der Kaserne entfernt, wo sie in Stiefeln, mit Uniformhose und freiem Oberkörper durch die Wälder rannten. Bei den Grenztruppen hingegen begnügte man sich mit gemütlichen Dauerläufen und gymnastischen Verrenkungen, die selbst Schwangere kurz vor der Entbindung hinbekommen hätten.
Im Anschluss an den Frühsport war eine Viertelstunde für Toilette, Körperpflege und das Anlegen der Uniform eingeplant. Jeder Armeeangehörige hatte sein Bett exakt zu bauen und die Schrankordnung herzustellen. Es folgte das Stuben- und Revierreinigen. Dazu ist das Kasernengelände in Außen- und Innenreviere aufgeteilt worden. Am frühen Morgen draußen die Regimentsstraße zu fegen und den Müll aufzusammeln, kostete Überwindung. Trotzdem entschied ich mich immer fürs Außenrevier, wenn ich wählen durfte.
Um 7.10 Uhr marschierten wir unter „Spaniens Himmel“ zum Frühstück, wobei unsere Stiefel im Takt auf den Boden knallten. Das Echo, das von den Häuserwänden zurückhallte, brachte einen wieder aus dem Rhythmus, was Ehrenrunden auf dem Appellplatz nach sich zog. Die Zeit für den Umweg fehlte beim Essen. Das Frühstück durfte zehn Minuten dauern, woraus locker fünf Minuten wurden, wenn wir zu lange vor der Ausgabe standen. Die Qualität des Essens war einfach und gut. Den Grenztruppen gewährte man den höchsten Verpflegungssatz innerhalb der militärischen Einheiten des Landes, um die Moral in der Truppe aufrecht zu halten. Also hätte es täglich qualitativ hochwertige Mahlzeiten geben können, wären nicht ständig Lebensmittel aus dem Lager in Eisenach verschwunden. Angeblich sind diese gegen Alkohol eingetauscht worden. Es reichte aber für Weißbrot, Butter, Marmelade und Schmelzkäse zum Frühstück. An Sonn- und Feiertagen lag sogar ein Stück Kuchen vom Vortag auf dem Teller. Muckefuck, lauwarmer Malzkaffee, ersetzte gewohnten Bohnenkaffee. Wir mussten uns zwar einschränken, aber verhungert ist keiner.
Bis zum Morgenappell wurde das Stuben- und Revierreinigen abgeschlossen, wobei die Wasch- und Sanitärräume einen Schwerpunkt bildeten. Die Nahrungsaufnahme hatte die Verdauung der Rekruten in Gang gebracht, so dass der Revierdienst nur mit Schutzmaske aufs Klo konnte. Beim Organisieren von Toilettenpapier erfuhr ich, dass jedem Soldaten laut Dienstvorschrift täglich genau 60 Zentimeter graues, raues Klopapier zustanden, die auch den letzten Hintern rot kriegen sollten. Pünktlich um 8.00 Uhr fand vorm Kompaniegebäude der Morgenappell statt, auf dem zuerst die Anzugsordnung überprüft wurde. Auffällige Soldaten mussten wegtreten, oberflächliche Rasur, Sauberkeit der Kragenbinde oder mangelhaften Stiefelputz verbessern. Selbst wenn alle Rekruten rein äußerlich der Dienstvorschrift entsprachen, pickten sich die Vorgesetzten ein Opfer heraus, das vor versammelter Mannschaft gemaßregelt wurde, was der Abschreckung dienen sollte. Dann verkündete der Offizier vom Dienst (OvD) den Tagesplan, der sich aus Politunterricht, Grenz- und Gefechtsausbildung zusammensetzte. Grundlagen des Gefechtes waren Taktik-, Schieß-, Schutz-, Exerzier- und Sanitätsausbildung, MKE sowie die Topografie. Berufskraftfahrer durchliefen eine Spezialisierung zum Militärkraftfahrer. Ich hatte mich anfangs für einen Hundeführerlehrgang eingetragen, der nach der Grundausbildung in Hildburghausen stattfinden sollte.
Von diesen Ausbildungsfächern gefiel mir MKE mit dem Achtertest und einem Härtetest, der unter anderem einen 1000-m-Lauf in Uniform mit Stiefeln und einen 15-km-Marsch vorschrieb, am besten. Nur die Sturmbahn, eine Anlage mit genormten Hindernissen aus Kriechstrecke, Sprunggraben, Klettertau, Eskaladierwand, Tunnel und Giebelwandfenster, bereitete mir Schwierigkeiten. Mich beschlich ein beklemmendes Gefühl, wenn ich durch die engen Betonröhren des dunklen Tunnels kroch, in denen immer Regenwasser stand. Einmal rutschte ich aus, knickte um und zog mir eine schmerzhafte Mittelfußprellung zu. Ein junger Militärarzt, der berufsbedingt in jedem Soldaten einen vorsätzlichen Simulanten sah, sprach von einer Glanzleistung und befreite mich die nächsten drei Tage von der gehassten Sturmbahn.
Die Innenausbildung fand oft in überheizten Schulungsräumen statt, wo niemand lüften durfte. Deshalb zog ich in einer Politstunde meine Uniformjacke aus und hängte sie über die Stuhllehne. Als sich der Oberleutnant hinterm Pult erhob und meine unvollständige Anzugsordnung entdeckte, begann er zu toben. Anfängliches Erstaunen wich blankem Entsetzen. Ich sah, wie sich das Gesicht des Lehrers zur Faust ballte. Auf dem Gipfel seiner Entrüstung fragte er, ob ich mir eine Erkältung wünschte. Genau die wollte ich unbedingt vermeiden. Nachdem sich der Offizier wieder gesetzt hatte, glaubte ich, dass er sein Pulver an Temperament verschossen hätte, doch weit gefehlt. Der Oberleutnant holte tief Luft und startete neue Hasstiraden gegen meine Person. Ich musste mir die Jacke anziehen und durfte den Rest der Stunde stehen, um anderen Rekruten als abschreckendes Beispiel zu dienen. Für unerlaubtes Ablegen von Uniformteilen in Tateinheit mit Wehrkraftzersetzung erhielt ich Urlaubs- und Ausgangssperre für zwei Wochen. Die Strafe hätten sich die Vorgesetzten sparen können, weil wir Rekruten bis zur Vereidigung sowieso nicht aus der Kaserne durften.
Das Mittagessen unterbrach den Ausbildungstag. Während der Außenausbildung auf dem Wartenberg wurde in der Feldküche gekocht. Ich suchte mir ein warmes Plätzchen an der Gulaschkanone und dachte beim Essen an die frisch zubereiteten Eintöpfe daheim. Die Suppen meiner Mutter schmeckten lecker, weil alles drin war, was im Garten geerntet wurde. In Eisenach musste man deutliche Abstriche machen. Meistens schwamm nur wenig Gemüse im Henkelmann, der Rest war verkocht. Gerüchte von überschrittenen Mindesthaltbarkeitsdaten beim Dosenfutter ignorierte ich. Daneben mochte ich jede Form von Eierteigwaren. Ich fand Nudeln mit Gulasch und Rot- oder Weißkohl lecker. Da nicht alle Rekruten so dachten, herrschte kein Andrang, wenn ich mir Nachschlag holte. Eine zusätzliche Portion verlängerte automatisch die Mittagspause. Leider mangelte es an frischem Obst und Gemüse. Grüne Äpfel, meistens Gelber