Ich hatte einen Schießbefehl. Paul Küch
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Grenztruppen der Deutschen Demokratischen Republik hörte sich plötzlich so bedeutend an, viel wichtiger als motorisierter Schütze oder Mucker. Man hätte fast annehmen können, es würde sich um eine Auszeichnung handeln, denn ich war ein Kind zweier Genossenschaftsbauern, die in der Hierarchie der Klassen und Schichten im Lande hinter den Angehörigen der Arbeiterklasse lagen. Irrtümlich dachte ich, dass nur Söhne von Betriebsleitern, Kombinatsdirektoren oder Parteisekretären an die Grenze kamen. Bei den Grenztruppen herrschte eine bunte Mischung, was die Herkunft der Rekruten betraf. Damals habe ich dem Grenzdienst gleichgültig gegenübergestanden, weil ich wenig darüber wusste. Ich kannte die olivgrünen Uniformen, die mit dem Muster aus einem Strich und dann wieder keinem Strich abwechselnd verziert waren. Von dieser Anordnung stammte der Begriff Einstrich-Keinstrich, das Kurzwort für unsere Uniformen.
Zur Ausbildung sollte ich ab November 1982 ins Grenzausbildungsregiment 11 nach Eisenach einrücken. Mit dieser Stadt verband ich die Wartburg und den gleichnamigen Pkw, das Aushängeschild der einheimischen Automobilindustrie. Dabei zählte Eisenach neben Weimar zu den deutschen Kulturhochburgen. Martin Luther versteckte sich hier auf der Wartburg, übersetzte als Junker Jörg das Neue Testament aus dem Griechischen ins Deutsche und schuf somit die Grundlage der deutschen Schriftsprache. Johann Sebastian Bach wurde am Frauenplan 21 geboren, Walter von der Vogelweide und Goethe waren in der Stadt zu Gast und der Dichter Fritz Reuter verbrachte hier seine letzten Jahre. Auf Grund ihrer Bedeutung in der deutschen Geschichte präsentierte sich Eisenach in einem für DDR-Verhältnisse erstaunlich gepflegten Zustand. Unsere Staatsführung verwendete erhebliche finanzielle Mittel, dass nicht nur die Wartburg für Touristen vorzeigbar war. Die Besucher aus dem Westen konnten bedenkenlos Kirchen, Museen und Fachwerkhäuser der Stadt besichtigen.
Warum wird man aus dem Bezirk Frankfurt an der Oder in den Bezirk Erfurt befohlen? Einfach deshalb, weil unser Staat kriegsähnliche Verhältnisse simulierte und junge Leute so weit wie möglich von zu Hause wegschickte. Aus dem Osten des Landes verfrachtete man sie an die Westgrenze und umgekehrt. Jungs aus dem Norden mussten im Süden dienen und anders herum.
Die Aussicht, dass mir zwei Winter an der Grenze bevorstanden und nicht zwei Sommer, war vorteilhaft, da man sich in der warmen Jahreszeit angenehmer vergnügen konnte als in der kalten. Das galt vor allem, wenn eine Freundin, Verlobte oder Ehefrau daheim existierte. Der Grundwehrdienst bildete einen echten Prüfstein für die Liebe. Genau an diesem Punkt begann mein Problem. Sollte ich so kurz vor der Armeezeit das Risiko einer neuen Beziehung eingehen?
Aller Abschied fällt schwer
Auf dem Weg zur Penne kam mir täglich eine junge Frau mit einem Moped entgegen. Man konnte die Uhr nach ihr stellen, denn pünktlich um 7.00 Uhr brauste sie an mir vorbei und grüßte jedes Mal freundlich. Wie sich Corinna mit ihrer orangefarbenen Schwalbe in die Kurven legte, war sehenswert.
Sie arbeitete als Sekretärin in der LPG, wo auch meine Eltern unseren Lebensunterhalt verdienten. Corinna gefiel mir mit ihrer mittelblonden Mähne und dem schelmischen Lächeln auf Anhieb. Sie hatte graugrüne Augen, einen begehrenden und zugleich begehrenswerten Blick sowie Kurven satt. Ihre Weiblichkeit verlieh jedem Kleidungsstück etwas Besonderes, das nicht nur meine Sinne, sondern auch mein Herz berührte. Wenn ich Corinna sah, ging es mir gut.
Um an Informationen über sie zu kommen, bemühte ich ihren jüngeren Bruder, der die Berufsschule in der Nachbarkreisstadt besuchte und ebenfalls mit dem Zug fuhr. Doch Ralf verstand nicht, dass ich Gefallen an seiner Schwester gefunden hatte. Er war so verschlossen, dass ich nichts aus ihm herausbekam. Also musste ich mich selber kümmern. Sehnsüchtig fieberte ich dem wöchentlichen Training der Damen-Gymnastikgruppe unseres Dorfes entgegen und beobachtete Corinna, die sich elegant über den Mattenboden bewegte. Während der Festumzüge am 1. Mai und 7. Oktober stand ich am Straßenrand, um Corinna zu sehen, die im Gleichschritt des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) der DDR marschierte. Die pure Lebensfreude, die von ihr ausging, wirkte ansteckend. Wenn ich Corinna mit meinen bisherigen Eroberungen vergleiche, müsste ich die jungen Frauen kränken. Um nicht missverstanden zu werden: Alle Mädels waren auf ihre Art nett, liebenswert und ich bereue keine der Beziehungen. Jedoch steckte der Damennachwuchs wie ich in der pubertären Erkundungsphase. Corinna wirkte mit ihrer Lebenserfahrung wesentlich reifer. Ich machte mir wenig Hoffnung, da sie fünf Jahre älter war und zwischenzeitlich auch verheiratet. Mit diesen Tatsachen wollte ich mich nicht abfinden. Auf der Suche nach einer passenden Gelegenheit, meinen Schwarm wiederzusehen, half mir der Zufall.
Mein lahmes Moped, das ich mir vom Jugendweihegeld kaufte, hatte ich mit Wertausgleich gegen ein Motorrad vom Typ MZ TS 150 eingetauscht, das nicht anspringen wollte. Trotz neuer Zündkerze gab das Motorrad keinen Laut von sich. Wütend warf ich das Werkzeug durch die Garage, bis diese einem Schlachtfeld glich. Ich gebe zu, dass ich von Technik keine Ahnung hatte. Auch mein Sinn fürs Praktische ließ zu wünschen übrig, aber ich erkannte, dass ich fachmännische Hilfe brauchte. Da nur ausgewählte Haushalte in unserem Dorf über einen Telefonanschluss verfügten, radelte ich zum LPG-Büro. Von dort aus wollte ich eine Werkstatt anrufen, um einen Reparaturtermin zu vereinbaren.
Als ich schüchtern den Raum betrat, verflog der ganze Ärger mit dem Motorrad. Meine Traumfrau, die auf eine Optima-Schreibmaschine einhämmerte, grüßte freundlich, ohne das Tippen zu unterbrechen. Hinter ihrem rechten Ohr klemmte ein angespitzter Bleistift, was mir Respekt einflößte. In dem Moment vergaß ich alle Komplimente, die ich mir mühsam ausgedacht hatte. Ich war so nervös, dass ich erst nach einigen Augenblicken den Mut fand, sie anzusprechen. Mit hochrotem Kopf schilderte ich das technische Problem und bat die Sekretärin um Unterstützung. Corinna unterbrach ihre Arbeit und musterte mich von oben bis unten. Wenn ich das geahnt hätte, wäre mein Blaumann in der Garage geblieben. Wer bei uns im Dorf nicht in Arbeitsklamotten oder im Trainingsanzug umherlief, der hatte entweder Geburtstag oder es war Feiertag. Corinna verschränkte beide Arme, sah mitleidig zu mir rüber und bemerkte, „dass der Teufel so manches Mal direkt im Detail stecken würde.“ Ich hielt die treffliche Fehlerdiagnose der Tippse für blanken Wahnsinn und sah sie mit einer Mischung aus Erstaunen und Zuneigung an. Corinna blätterte im Telefonbuch, wählte die Nummer der Werkstatt und reichte mir den Hörer. Aufgeregt griff ich daneben und spürte ihre warme, weiche Hand, die ich nicht loslassen wollte. Mein Telefonat geriet völlig zur Nebensache, als sie sich lässig zurücklehnte und die Arme hinterm Kopf verschränkte. Verlegen schielte ich auf ihr pralles Dekolleté, das die Rüschenbluse in Altrosa ausfüllte. Mir wurde schlagartig klar, dass Corinna mehr verdient hatte als meine heimliche Bewunderung.
Diese Frau hätte man mit Zärtlichkeiten überschütten müssen in jeder Sekunde des Tages und warum sollte ich das nicht tun. Wenn der LPG-Vorsitzende nicht ins Zimmer geplatzt wäre, hätte ich wahrscheinlich die Beherrschung verloren. Stattdessen bedankte ich mich höflich und verließ das Büro in der Hoffnung, dass ich der freundlichen Sekretärin in Erinnerung bleiben würde.
Der Autor mit seiner MZ TS 150
Ein anderes Mal traf ich Corinna in unserem Dorfkonsum, wo sie in der Mittagspause regelmäßig einkaufte. Sie trug ein braunes Sommerkleid, das vorne durchgehend zu knöpfen war. Die oben und unten offene Knopfleiste gestattete mir tiefe Einblicke. Ich hätte beinahe die Konsummarken vergessen, die meine Mutter sammelte.