Ich hatte einen Schießbefehl. Paul Küch
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Ich hatte einen Schießbefehl - Paul Küch страница 10
Genau 14 Tage vor meiner Einberufung sah ich Corinna bei einer Disko, wo sie in einem grünen Strickpulli und hautengen Bluejeans den Saal rockte. Dieser Anblick bestätigte meinen Entschluss, endlich anzugreifen. Aber das Auseinandertanzen lag mir nicht. Die Frau auf diesem Wege zu erobern, fiel also aus. Ich tanzte lieber zusammen oder rockte bei „Hiroshima“ von Wishful Thinking kniend auf dem Fußboden. Dabei konnte man keinem auf die Schuhe treten. Einen Kompromiss bildete die langsame Runde, die häufig als seichtes Vorspiel am Ende der Veranstaltung gespielt wurde. Im Dunkeln hätte niemand einen Fehltritt bemerkt. Wenn ich schon nicht alt genug war, musste ich wenigstens für mein Alter perfekt wirken. Ich bestellte mir beim Diskjockey mein Lieblingslied, „Am Fenster“ von City, das er sowieso zum Abschluss spielen wollte. Als die ersten Geigenklänge aus den Lautsprecherboxen auf der Bühne zu hören waren, forderte ich Corinna zum Tanzen auf. Sie lächelte verschmitzt und folgte mir aufs Parkett. Die neugierigen Blicke ihrer staunenden Freundinnen ignorierte ich. Beim Tanzen bewegten wir uns kaum von der Stelle. Während ich ihre Nähe genoss, plapperte Corinna munter drauflos wie das Frauen so an sich haben. Da ich nur die Hälfte der Nettigkeiten verstand, schmiegte ich mich noch enger an sie heran. Für diesen Augenblick hatte ich den ganzen Aufwand betrieben und wurde nicht enttäuscht. Irgendwann küsste ich Corinna flüchtig auf den Mund. Sie erwiderte meinen Kuss und ich legte nach. Das klebrige, rote Zeug auf ihren weichen Lippen reichte für zwei. Unsere kleinen, heimlichen Zärtlichkeiten bestärkten meinen Wunsch, dass der gemeinsame Abend kein Ende nehmen sollte. Nach der Disko brachte ich Corinna bis vor die Haustür und fragte zuerst nach dem Senf, worauf eine simple Erklärung für den Hamsterkauf folgte. Corinnas Mutter, die Verkaufsstellenleiterin des Konsums in der Nachbargemeinde, hatte einfach vergessen, Senf zu bestellen. Die kluge Geschäftsfrau beauftragte ihre Tochter, Mostrich im Nachbardorf zu kaufen, um einem Mangel im eigenen Laden vorzubeugen. Der Senf, der mir nur als Vorwand diente, spielte in meinen Gedanken längst keine Rolle mehr. Ich küsste Corinna zärtlich und streichelte ihr sanft über das Haar. Natürlich begehrte ich diese Frau, die energisch versuchte, mich abzuwimmeln. Warum bemühte sich Corinna, mir zu widerstehen? War ich tatsächlich zu jung für sie? Sie blieb hartnäckig und rückte den Haustürschlüssel nicht heraus. Allein die Kälte dieser Oktobernacht wäre ein guter Grund gewesen, mich aus reiner Nächstenliebe mit nach oben zu nehmen. Kurz vorm Morgengrauen gab sie endlich nach und zog mich die Treppe hoch in ihre Einraumwohnung unterm Dach des Mehrfamilienhauses. Verrückt nach Liebe landeten wir auf der gemütlichen Klappcouch, wo ich eine so bedingungslose Hingabe und Leidenschaft spürte, wie ich sie bisher nicht kannte. Ich schloss Corinna in die Arme und drückte ihren weichen, warmen Körper zärtlich gegen meinen. Sie wehrte sich nicht und wir liebten uns in tiefer gegenseitiger Hingabe. Noch Tage später atmete ich ihren unwiderstehlichen Duft an meinem Körper. Die Frau ging mir förmlich unter die Haut. Von Beginn an stand für mich fest, dass Corinna eine Nummer zu groß für mich war. Liebevoll erzog sie ihre kleine Tochter Meike. Pflichtbewusst arbeitete sie als Sekretärin im LPG-Büro. Während der Urlaubszeit half sie auf dem Feld oder im Stall. In ihrer praktisch eingerichteten Mansarde herrschten Ordnung und Sauberkeit. Corinna konnte waschen, kochen und backen. Sie mochte Rockmusik aus England, romantische Liebesfilme und verschiedene Literaturklassiker. Mir imponierte, dass sie die Bücher in ihrem Regal tatsächlich alle gelesen hatte. Was sich Corinna in den Kopf setzte, zog sie konsequent durch und vergeudete dabei keinen Augenblick. Damit legte sie hohe Maßstäbe an sich selbst. Von dieser Frau konnte ich mir eine ordentliche Scheibe abschneiden, denn sie wusste, worauf es im Leben ankam. Obwohl ich mir kaum Hoffnung auf eine feste Beziehung machen durfte, schwor ich mir damals, die oder keine.
Nach meinem Abschiedsspiel vor dem Grundwehrdienst gab es nicht nur Siegerbier in der Umkleidekabine. Mein Torwartkollege Norbert brachte selbstgemachten Pflaumenschnaps mit. Der Likör schmeckte lecker und verursachte anfangs kein Kopfweh, doch nach einer gewissen Zeit drehte sich alles vor meinen Augen.
Mannschaftsfoto vorm Abschiedsspiel am 30.10.1982
Zwei Mitspieler brachten mich nach Hause, wo ich meinen Rausch ausschlief. Als mich Norbert am Abend zur Abschiedsparty abholte, hätte ich lieber weiter geschlafen, aber meine Freunde erwarteten mich in der Bahnhofsgaststätte. Auf dem Weg dorthin bekam ich mächtig Schlagseite. Allein hätte ich die Strecke sicher nicht geschafft. Vorm Dorfkonsum begegnete uns eine Nachbarin mit ihrem Hund Scharik. Der Name entstammte dem treuen Gefährten von Janek aus der polnischen Fernsehserie „Vier Panzersoldaten und ein Hund“. Ich muss mächtig getorkelt sein, weil mich der Schäferhund in diesem Zustand nicht erkannte. Auf gleicher Höhe angekommen, sprang Scharik an mir hoch und biss mir in den linken Unterarm. Vor Schreck war ich sofort wieder nüchtern. Glücklicher Weise trug ich meine Jeansjacke unterm Anorak, so dass Fleisch und Knochen wenig abbekamen.
Trotz des Missgeschickes wurde es ein geselliger Abend. Die Wirtsleute Emmi und Heiner hatten den Billardtisch zu einer festlichen Tafel umgestaltet. Heiner schützte den grünen Filz mit einer exakt angepassten Holzplatte, Emmi deckte ein weißes Tafeltuch darüber. Ich mochte das freundliche Ehepaar mit den kleinen Macken. Emmi sah heimlich Westfernsehen. Wenn Heiner sie dabei überraschte, schaltete er sofort auf einen Ostsender um. Als aktives Mitglied der Kampfgruppe des Ortes befürchtete er, dass sich Emmi im Dorf verplappern könnte. Dabei guckten viele Einwohner täglich ARD und ZDF, aber nur wenige sprachen darüber. Den Abschied feierte ich gemeinsam mit Jörg, der wie ich zur Ausbildung nach Eisenach musste. Mein Mitstreiter war ein Jahr älter als ich und wohnte direkt neben der Gaststätte. Wie unser Land im Großen bildeten wir eine geschlossene Gesellschaft im Kleinen an diesem Abend, was ein Schild am separaten Eingang zum Billardraum dokumentierte. Im hinteren Teil der Gaststätte lief der normale Kneipenbetrieb weiter. Emmi und Heiner hatten viel Arbeit. Zur Einstimmung auf den Grundwehrdienst übten wir zu zweit marschieren. Anstelle einer Waffe schulterte jeder einen Billardqueue. Der Gleichschritt stellte für Jörg kein Problem dar, nur ich verlor das Gleichgewicht und rammte den Tresen. Päckchenbauen beendete unser vormilitärisches Treiben. In Anlehnung an das Fertigmachen zur Nachtruhe bei der Armee wurden sämtliche Klamotten nach Größe geordnet auf einem Hocker zusammengelegt. Wir übten mit der Kampfgruppenuniform und der langen Baumwollunterwäsche vom Gastwirt. Leider verstand Jörg die Aufgabe falsch, denn er zog sich vor den Anwesenden splitternackt aus, was einigen Mitschülerinnen die Schamesröte ins Gesicht trieb. Wie ein schwankender Leuchtturm versuchte er, die Unterwäsche überzustreifen. Da er mit beiden Beinen in ein und dasselbe Hosenbein stieg, kam mein Freund ins Schwanken. Als er sich am Tisch abstützte, verlor er das Gleichgewicht und landete mit den Händen auf den Tellern seiner Nachbarinnen. Zwei Zigeunersteaks und ein Teil der Sättigungsbeilage landeten auf der Tischdecke. Fettflecken zierten das weiße Tafeltuch und die lange Unterwäsche von Heiner. Während der Wirt sich den Ärger nicht anmerken ließ, starrten die Mädchen ihren Mitschüler Jörg entsetzt an. Der Rest der Feier fehlt in meinem Gedächtnis.
Am nächsten Morgen war das Aufwachen umso schöner. Gemeinsam mit Corinna und Meike genoss ich den vorläufig letzten Sonntag in ziviler Freiheit. Meine äußerliche Gelassenheit war gespielt. Seit ich den Einberufungsbefehl in der Tasche hatte, zerriss es mir das Herz, sobald ich an Abschied dachte. Ich wollte nicht weg, befürchtete den Verlust menschlicher Wärme und Geborgenheit. Abseits von persönlichen Verpflichtungen, Planerfüllung und Vorbildwirkung in der Gesellschaft hatten wir eine Nische gefunden, in der der Altersunterschied zwischen Corinna und mir keine Rolle mehr spielte, wo wir gleichberechtigte Menschen mit Träumen, Wünschen