Grundlagen der Funktionswerkstoffe für Studium und Praxis. Janko Auerswald
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Abb. 1.9 (a) Quasiisotropes polykristallines Gefüge ohne Textur; (b) anisotropes polykristallines Gefügemit Textur, d.h. mit einer Vorzugsorientierung der Kristalle.
Polykristalline Werkstoffe ohne Textur verhalten sich quasiisotrop. Obwohl jedes Korn für sich eigentlich anisotrop ist, wirkt der Werkstoff durch den Ausgleich der Eigenschaften wegen der statistisch zufälligen Kornorientierung nach außen isotrop.
Polykristalline Werkstoffe mit Textur verhalten sich anisotrop. Mit Textur ist eine Vorzugsorientierung der Körner gemeint, so dass sich die Eigenschaften in verschiedenen Richtungen nicht mehr statistisch ausgleichen.
1.5 Polymorphie: Die Vielgestalt von Werkstoffen
Werkstoffe wie Eisen (Stahl), Siliziumoxid, Zirkoniumoxid oder Kohlenstoff können je nach Temperatur und Herstellungsbedingungen verschiedene Strukturen einnehmen (Abb. 1.10). Diese Polymorphie (,,Vielgestaltigkeit“) wird zum Beispiel zum Härten von Stahl ausgenutzt. Reines Eisen ist von Raumtemperatur (20 °C) bis 911 °C kubisch-raumzentriert (krz Ferrit, α-Fe). Es nimmt zwischen 911 und 1392 °C eine kubisch-flächenzentrierte Struktur an (kfz Austenit, γ-Fe) und wechselt oberhalb 1392°C bis zur Schmelztemperatur (1536°C) wieder in eine kubischraumzentrierte Struktur (krz δ-Fe). Wenn Eisen viel Kohlenstoff enthält und schnell abgeschreckt wird, kann sich die austenitische Phase in die sehr harte metastabile tetragonal-innenzentrierte Phase Martensit umwandeln (Abb. 1.11). Ebenfalls metastabil ist das amorphe Eisen, das viele Fremdatome enthält. Als dünnes Band wird es sehr schnell abgeschreckt, so dass es beim Erstarren zu wenig Zeit hat zu kristallisieren.
Auch Kohlenstoff kann verschiedene Strukturen einnehmen, z. B. als Graphit, Diamant, fußballartiges Fulleren-Nanopartikel, Kohlenstoffnanoröhrchen, zweidimensionales Graphen oder als amorpher Ruß. Graphen und Fullerene ermöglichen neue Arten von Halbleitern und Polymerhalbleitern. Darauf wird in den entsprechenden Kapiteln dieses Buches noch genauer eingegangen.
Abb. 1.10 Unten: Reines Eisen liegt von Raumtemperatur (20°C)bis911°Calsku-bisch-raumzentrierter (krz) Ferrit vor. Gezeigtsind die krz Elementarzelle mitden Positionen der Eisenatome und ein typisches Gefügebild mitKörnern und Korngrenzen. Die blaue Markierung zeigtein Korn mit seinen Korngrenzen. Oben: Zwischen 911 und 1392 °C liegt der kubisch-flächenzentrierte (kfz) Austenit vor. Neben derkfz Elementarzelle istdasGefüge unter einem Lichtmikroskop gezeigt. Charakteristische Merkmale dieses Gefüges sind die eckigen Körner und die Zwillingsfehler, d.h. Störungen der Stapelfolge der dichtest gepackten Ebenen (rote Markierungen).
Abb. 1.11 Wird dem Eisen mehr als 0.3% Kohlenstoff zulegiert und es sehr schnell in Wasser abgekühlt (abgeschreckt), so kristallisiert der kfz Austenit nicht in krz Ferrit. In einem Umklappprozess entsteht Martensit mit seiner tetragonal-innenzentrierten Elementarzelle (a). Unter dem Mikroskop ist der extrem harte Martensit an seinem nadelförmigen Gefüge erkennbar (b).
Die Keramik Zirkoniumoxid ist ebenfalls polymorph. Bei Raumtemperatur liegt im thermodynamischen Gleichgewicht eine monokline Kristallstruktur mit geringer Symmetrie vor. Durch Stabilisierung mit anderen Oxiden, z. B. Yttriumoxid Y2O3, existiert bei Raumtemperatur auch noch eine tetragonale Phase, die eigentlich bei höheren Temperaturen vorkommt. Läuft ein Riss durch das Material, erfolgt an der Rissspitze eine Umwandlung der tetragonalen in die monokline Phase. Damit verbunden ist ein Volumensprung an der Rissspitze, der das Risswachstum und damit einen Sprödbruch stoppen kann. Das polymorphe Verhalten beim Stoppen von Rissen eröffnet dieser besonderen Keramik Anwendungsmöglichkeiten als Hüftgelenks- und Dentalimplantat, keramisches Messer oder Wälzkörper in Lagern. Y2O3 -stabilisiertes Zirkoniumoxid weist Sauerstoff-Leerstellen im Ionengitter auf. Es dient bei Temperaturen um die 600 °C als Sauerstoffionenleiter in LambdaSonden, z. B. bei der Messung der Sauerstoffkonzentration in Abgasgemischen.
1.6 Phasen
Werkstoffe bestehen oft aus nicht nur einer Kristallsorte (homogenes Gefüge, eine Phase), sondern mehreren Kristallsorten (heterogenes Gefüge, mehrere Phasen). Abbildung 1.12 zeigt ein einphasiges Gefüge von polykristallinem Silizium und ein mehrphasiges Gefüge von Gusseisen. Phasen sind ein in sich homogener Teilbereich eines Werkstoffs mit gleicher chemischer Zusammensetzung, Struktur und Eigenschaften. Eine Phase kann kristallin oder amorph sein. An den Phasengrenzen tritt eine sprunghafte Änderung der chemischen Zusammensetzung, Struktur und Eigenschaften auf.
Abb. 1.12 (a) Einphasiges polykristallines Siliziumgefüge (lasergeschnittene Zifferblattscheibe mit Bohrungen). Es enthält nur Siliziumkristalle, die schon von Auge erkennbar sind. Die unterschiedliche Orientierung der Kristalle führt zu unterschiedlichem Reflexionsverhalten, so dass einige Körner sehr hell und einige sehr dunkel erscheinen. (b) Mehrphasiges Gusseisengefüge mit lamellarem Graphit. Die Graphitkristalle (schwarz) sind von Eisenkristallen (hell) umgeben und nur unter dem Mikroskop erkennbar. Die feinen Streifen sind das eutek-toide Gefüge aus Lamellen von Ferrit (hell, krz a-Eisen) und Zementit Fe3C (dunkel).
1.7 Werkstoffe, Rohstoffe und Nachhaltigkeit
Werkstoffe werden aus Rohstoffen hergestellt. Diese stehen nicht in unendlicher Menge zur Verfügung. Deshalb ist eine ökologisch nachhaltige Nutzung inklusive Recycling sehr wichtig. Nicht immer ist das der Fall. Bei vielen Metallen und bei Glas funktioniert das Recycling und damit die Kreislaufwirtschaft bereits sehr gut. Kunststoff hingegen wird als Verpackung oft nur einmal benutzt und landet in großen Mengen in Gewässern und in den Weltmeeren [1]. Dort braucht er Jahrhunderte, um sich zu zersetzen. In diesem Prozess entsteht sehr viel Mikroplastik, das in die Nahrungskette von Tieren und Menschen gelangt.
Recycling bedeutet oft Downcycling, z. B. die Verarbeitung von gebrauchtem Kunststoff im Straßenbau - mit einem gewissen Risiko der Freisetzung von Mikroplastik. Verbundwerkstoffe wie Glasfaser-verstärkter Kunststoff lassen sich nur schwer bzw. gar nicht rezyklieren. Das Recycling von Elektroschrott und von Edelmetallen in elektronischen Geräten ist ein wichtiges Thema. Es wird in großen Mengen in der dritten Welt unter gesundheitsschädlichen Bedingungen betrieben [2]. Volkswirtschaftlich und ökologisch wäre ein systematisches Recycling von Elektro- und Elektronikabfall jedoch sehr wichtig, um die Metalle und Edelmetalle zurückzugewinnen, die dort bereits in reiner Form vorliegen.
Langlebige Produkte sind nachhaltig. Aus betriebswirtschaftlichen Überlegungen wird leider oft eine Gewinnmaximierung oder Kostensenkung angestrebt,