Natur-Dialoge. Astrid Habiba Kreszmeier
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So geht es um Beiträge zum Weltlichen, zur Erinnerung an das sagenhaft Selbstverständliche, nämlich daran, dass sich das Leben ganz leiblich auf der Erde abspielt. Auch wenn darin viel vom Lebendigen, ja mitunter vom Beseelten oder gar Wunderbaren die Rede sein wird: All diese Gedanken sind tief »gottlos«, ganz und gar an Immanenz orientiert. Das Erdlingsdasein ist ausreichend unberechenbar und einfallsreich. So voller Wunder und Kraft, dass es eine Freude ist und es sich lohnt, mit offenen Augen durch Land und Leben zu ziehen.
1 Mit dem Begriff der Erddemenz will ich jene »Welt- und Erd-Entfremdung« ansprechen, die seit der Entwicklung der Schriftkulturen und ihrer dokumentierten Geistesgeschichte die Mehrzahl der menschlichen Kulturen prägt. Mit diesem Phänomen setzen sich viele Menschen in Theorie und Praxis auseinander. Meine Gedanken stützen sich unter anderem auf die theoretischen Analysen von Hannah Arendt sowie auf die Auseinandersetzungen des französischen Soziologen Bruno Latour und auf die Gedankenwelt der Ökofeministin Donna Haraway.
2 Eine schweizerische Fachzeitschrift für Beratungspersonen, das BSO Journal, widmet ihre Ausgabe 2/2020 der boomenden Frage der Online-Beratungen und ist sich sicher: Die neue Zeit ist digital. Matthias Varga von Kibéd erklärt darin im Gespräch mit Sandra Küng »Wie systemische Strukturaufstellung online geht« und stellt fest: »Systemische Strukturaufstellungen lassen sich sogar dann online durchführen, wenn der Klient und die Repräsentanten alle an verschiedenen Orten sind.« Split-Screen und Facetracking sind hier seine technischen Helfer.
3 Hier beziehe ich mich vor allem auf drei bekannte Namen: Gregory Bateson, der als wesentlicher Wegbereiter des systemischen Denkens gilt, hat in seinen gesellschaftskritischen und erkenntnistheoretischen Überlegungen, die Natur, also die nicht-menschliche Welt, noch an Bord. Zwar ist auch er, wie viele Männer seiner und schon geraumer Zeit, auf der Suche nach dem »einenden Muster«, das die Verschränkung von Materie und Geist zu erklären vermag, und tendiert letztlich dazu, dem Geist den Vorrang zu geben, aber immerhin ist er in fürsorglicher Hinwendung zur Frage: Welches Muster wirkt zwischen dem Einzelnen? In Geist und Natur schreibt er auf Seite 22: »In Wahrheit ist die richtige Weise anzufangen, über das Muster, das verbindet, nachzudenken, es primär (was immer das bedeuten mag) als einen Tanz ineinandergreifender Teile aufzufassen, und erst sekundär als festgelegt durch verschiedenartige physikalische Grenzen …«
Ilya Prigogine, der als Physiker, Chemiker und Philosoph rund um seine Thesen der Selbstorganisation und dissipativer Strukturen die Systemtheorie stark inspirierte, hatte gemeinsam mit der Philosophin Isabelle Stengers unter dem Titel Im Dialog mit der Natur eine wissenschaftskritische und philosophiekritische Auseinandersetzung der »alten« Trennung von Natur und Kultur angeregt. Isabelle Stengers ist als Wissenschaftsphilosophin bis zum heutigen Tag in ihrem Werk daran, eine kritische Auseinandersetzung von Wissenschaft, Politik, Ökologie und Kosmologie zu wagen (vgl. Stengers 2008).
Humberto Maturana, der gemeinsam mit Franzisco Varela die Idee der Autopoiese als Muss in den systemischen Diskurs einbrachte, lehrte bis zu seinem Tod im Frühjahr 2021 noch gemeinsam mit Ximena Dávila im Institut Matriztica in Chile ihren Ansatz der »Cultural Biology«, »Biologia Cultural«. Seine unermüdliche Forschung rund um das, wie Leben und menschliches Leben beschrieben und gestaltet werden kann, wird im Laufe dieser Arbeit immer wieder einfließen.
2Praxis des Streunens
»Lebende Systeme sind wunderbar spontan.«
Humberto Maturana
»Nichts ist mit allem verbunden. Alles ist mit etwas verbunden.«
Donna Haraway, Unruhig bleiben, S. 48
Seit dreißig Jahren arbeite ich mit Menschen in beratender und psychotherapeutischer Praxis. Gemeinsam mit meinem Partner und Kollegen und Kolleginnen erfinden wir Ausbildungen, zetteln wir Netzwerke an, halten da und dort Vorträge und schreiben. Es grenzt an viele Wunder, dass das, was wir am Rande einer scheinbar völlig anders tickenden Lebensumwelt tun, nicht nur funktioniert, sondern uns ernährt und erfüllt und in all den Jahren nie langweilig geworden ist. Seit zwanzig Jahren ist der Rosenhof unser Seminarhaus und Praxisraum in einem ländlichen Gebiet, am Rande eines appenzellischen Dorfes. Der Westhang hinter dem Haus lässt zwar die Sonne früher untergehen, aber er schützt uns vor kalten Winden. So gedeihen hier allerlei prächtige Blumen, Sträucher, Kräuter und Bäume, ehe sich ein wildes Wald-Tobel hinunter zu einem kleinen, aber frei fließenden Fluss namens Sitter neigt. Scherzhaft sagen wir manchmal, unser Esalen4 liegt eben nicht an der Klippe zum Pazifik, sondern an einer Klippe zum Fluss.
Die Menschen, die uns aufsuchen, sind so vielfältig wie der Garten. Jünger, älter, männlich, weiblich, arm und reich und aus allerlei beruflichen und sozialen Umfeldern. Sie kommen aus den Nachbardörfern und aus den Städten, von nah und fern. Sie kommen mit Krankheiten, Anliegen, mit Interesse oder einfach aus Freude.
Und auch wenn sich unsere Arbeitsweisen verschiedentlich beschreiben lassen, so sind sie doch alle von einer markanten Qualität geprägt: von der Praxis des Streunens. Ja, es ist fast ein bisschen simpel und doch offensichtlich: Das Streunen wurde zum Herzstück unseres Wirkens. Es gibt kaum eine andere Art von Weltenbezug, dem wir so viel an Geschenken und Einsichten, Möglichkeiten und Dialogen verdanken. Man darf annehmen, dass es sich mittlerweile herumgesprochen hat: Bei uns kann man das Streunen lernen.
Zwischen häuslichem Schutz und wildem Raum 5
Streunen ist eine sehr eigenwillige Weise, in der Welt zu sein. Für gewöhnlich wird das Streunen Tieren zugesprochen. Katzen sind hierzulande vermutlich die bekanntesten »Streunerwesen«. Sie bewegen sich – sofern sie nicht absolute Wohnungs- oder Hauskatzen sind – sozusagen nach Lust und Laune nach draußen, sie streifen durch das Gebiet, ohne ersichtliches Ziel; halten inne, setzen sich, laufen weiter. Sie erkunden den Raum, nahezu belanglos, ohne von ihm etwas zu wollen, nur um sich in ihm zu bewegen. Eine Katze am Streungang ist nicht auf der Jagd, zumindest so lange nicht, bis ihr etwas ganz interessant Erscheinendes über den Weg läuft, das sie daran erinnert, dass sie auch eine Jägerin ist. Und selbst dann ist nicht sicher, ob unsere Katze das genüssliche Streunen zugunsten des erregenden Jagens aufgibt.
Ich verstehe nichts von Katzen, bin ihnen weder besonders zunoch abgeneigt, aber in Sachen Streunen können wir von ihnen lernen. Ihre Mischung aus häuslicher Anhänglichkeit und wildnisorientiertem Bewegungsverhalten ermöglicht, dass wir sie relativ häufig und gefahrenfrei wahrnehmen, ja sogar beobachten können. Ich vermute, dass auch Wildschweine, Feuersalamander, Rehe und Dachse, ja vielleicht sogar alle Vierbeiner streunen, und wahrscheinlich streunen auch Vögel. Milane zum Beispiel sind sehr elegante Luftstreuner. Der Unterschied liegt wohl nur darin, dass all diese »Wildtiere« entweder