Natur-Dialoge. Astrid Habiba Kreszmeier

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Natur-Dialoge - Astrid Habiba Kreszmeier Systemische Therapie

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heißt, wir sind daran gewöhnt, uns von einem belebten Innen heraus in einem objektiven Draußen zu bewegen. Wir sind daran gewöhnt, sowohl dem Innen als auch dem Außen als getrennte Einheiten Aufmerksamkeit zu schenken. Mit systemischen Perspektiven, welche selbst ja noch lange nicht in unsere soziale, politische, institutionelle oder ökonomische Wirklichkeiten Einzug gehalten haben, ist unsere Aufmerksamkeit zwar mehr auf die kommunikativen Dynamiken und Muster zwischen den einzelnen Einheiten gelenkt, aber für ko-kreative eigenlebendige Wechselseitigkeit, die Maturana u. Dávila als unsere biologische Verfasstheit annehmen, gibt es in der psychologischen, bildenden, pädagogischen Sprache und Praxis nach wie vor wenig Platz.

      Wir sind nicht geübt darin, auf dieses Dazwischen zu schauen und ihm Ausdruck zu verleihen. Unmessbare, unkontrollierbare, unberechenbare, unsteuerbare Kräfte, die Beziehungen wechselseitiger Lebendigkeit ausmachen, werden in der breiten Öffentlichkeit wenig zur Sprache gebracht. Gut beobachtbar wurde das bei der Auseinandersetzung mit sowie der Information rund um Covid-19. Hier prägten Zahlen, Kurven, Tabellen die tägliche Berichterstattung. Das natürliche Zusammenspiel von Milieu und Viren kam darin marginal zu Wort.

      Wer sich in Psychotherapie und Beratung dem Lebendigen zuwenden will, wird sich Erfahrungen, Denkweisen und vor allem Praktiken aus anderen gesellschaftlichen Bereichen zuwenden müssen. Als besonders anschlussfähig, vermutlich nicht zuletzt aufgrund ihrer Transzendenzorientierung, die auch unsere Denkkultur durchdringt, erweisen sich Anleihen aus östlichen Kulturräumen. Unterschiedliche Formen von Achtsamkeitspraxis, der allgemeine Yoga-Boom, das beachtliche Netzwerk der Theorie-U-Bewegung oder der Integralen Schulen erzählen davon. Ihnen allen liegt eine Verwurzelung in oder Verbindung mit buddhistischen oder hinduistischen Traditionen zugrunde.8

      Zirkularität erfahren

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      Das Streunen, von dem ich hier gerade erzähle, ist jedenfalls kein Streunen im Geiste, sondern ein Streunen auf der Erde. Es ist kein Streunen im Licht, sondern ein Streunen an der frischen Luft. Es ist ein ganz und gar materielles, körperliches, konkretes Streunen. Nichts geringeres. Wenn Irina ausrutscht, könnte sie sich auch verletzen oder zumindest ihre Hose schmutzig machen. Und selbst wenn sie so sanft landet, garantiert nichts, dass ihr Streifzug zu irgendwelchen besonders nährenden, stärkenden, ermutigenden Begegnungen führt. Streunen verspricht keinerlei Ergebnisse, das macht es heutzutage schon sehr besonders. Wer kann es sich denn schon leisten, keine Ergebnisse zu erzielen?

      Hartmut Rosa, der das Prinzip oder die Fähigkeit der Resonanz ins Zentrum seiner soziologischen Thesen stellt, erläutert ausführlich, dass Ergebnisoffenheit in unserer gegenwärtigen Weltbeziehung, die auf Verfügbarkeit und Reichweitenerweiterung ausgerichtet ist, keinen Platz haben kann. Zugleich betont er mehrfach, dass Ergebnisoffenheit zu jenen zentralen Kriterien gehört, welche eine resonante – also in meinen Worten eine wechselseitig eigenlebendige, eine schöne und gelingende – Weltenerfahrung ausmachen.9 Streunen ist also resonanzkompatibel.

      Aber freilich, ich höre es schon, und es stimmt: Wir leben nicht vom Streunen allein. Nicht einmal unsere Katze. Nein, wir müssen auch jagen, sammeln, essen und schlafen. Wir müssen auch träumen, tanzen, singen, lieben und Geschichten austauschen. Wir müssen vielleicht sogar irgendwohin fahren, ganz bestimmt auch putzen und uns selbst und unsere Wäsche waschen. Wir müssen spielen, dann wieder Musik machen und Feste feiern. Wir müssen Rat halten, Entscheidungen treffen, vielleicht Freunden oder Angehörigen beistehen, sie vielleicht sogar begraben und verabschieden. Wir müssen Werkzeuge bauen oder töpfern oder nähen. Manchmal müssen wir auch krank sein oder im Haus etwas erneuern oder am Dorfplatz. Ach ja, wir müssen unbedingt zum Wasser: es trinken und der Welt, den Bäumen, den Tieren, den Blitzen und Winden begegnen, ihnen lauschen und sie schauen, wir müssen ihre Zeichen lesen oder eben auch Bücher, oder das Kunstvolle tun, das uns gegeben ist. All das und viel mehr, was wir wirklich zu tun haben, ist nicht streunen. Aber, und das ist unsere These: Wer immer wieder mal streunt, der lernt viel für all das andere.

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      Chancen auf Rückkoppelung

      Die Magie des Streunens, das haben wir schon gesehen, kann uns von vorgespurten Wegen abbringen. Als eine Art potenzielle Pertubation oder Verstörung lässt sie uns Erfahrungen von Spontaneität im wechselseitigen Zusammenspiel mit unserer ökologischen Nische machen. Unerwartet folgen wir darin Bewegungs- oder Handlungsimpulsen in und mit einem Raum, der auf uns ebenso unerwartet und spontan einwirkt wie wir auf ihn. Um es etwas pathetischer zu formulieren: Wir oder Elemente oder Perspektiven von uns erscheinen dem Raum so wie Elemente oder Perspektiven des Raumes vor uns erscheinen. Sie erscheinen uns als Du, so wie wir als Du erscheinen. Es kann sein, dass diese Dus einander etwas zurufen und gar einander antworten. Es kann sein, dass diese spontan entstehende Bezogenheit diese Dus verwandelt und zum nächsten führt. Es kann aber auch einfach still sein. Es kann sein, dass wir einem plötzlichen Antrieb folgen, schnell zu laufen, Steine zu sammeln oder in den See zu springen. Es kann aber auch sein, dass wir uns niederlassen, alle Viere von uns strecken, oder langsam, ganz langsam von einem Baum zum nächsten gehen und unsere Hände an ihren Stämmen entlanggleiten lassen, und wir spüren die Struktur der Rinde und spüren die Rinde unsere Handflächen spüren. Streunen erlaubt einen Wechsel von Geschwindigkeit, von Bewegung und Ruhe im Raum. Der Aufmerksamkeitsmodus, der mit dem Streunen einhergeht, führt nie und nimmer zu einer in nur eine Richtung weisenden Linie, dazu ist er zu biologisch, zu wirklich, zu lebendig, anders gesprochen: Er ist schlicht und ergreifend zirkulär.

      »In der Biologie gibt es keine monotonen Werte«, schreibt Bateson und führt weiter aus:

      »Ein monotoner Wert ist ein solcher, der entweder nur zu- oder nur abnimmt … Begehrte Substanzen, Dinge, Muster oder Erfahrungssequenzen, die in gewissem Sinne gut für den Organismus sind – Nahrungsmittel, Lebensbedingungen, Temperatur, Unterhaltung, Sex und so fort –, sind niemals so beschaffen, dass mehr von der Sache stets besser ist als weniger davon. Vielmehr gibt es für alle Objekte und Erfahrungen eine Quantität, die einen optimalen Wert hat. Jenseits dieser Quantität wird die Variable toxisch. Unter diesen Wert zu fallen bedeutet Entbehrung« (Bateson 1987, S. 72).

      Inspiriert von Batesons Perspektive wage ich zu behaupten, dass Streunen in einer kulturellen Umwelt, die mit linearem Denken und einem ebensolchen Handeln seit ein paar Jahrtausenden in toxischer Liaison zusammenlebt, nicht nur antitoxisch ist, sondern auch eine enorme Bildungschance für zirkuläres Denken, Empfinden und Handeln. Es enthält die Chance zur Rückkoppelung unserer biologischen und kulturellen Verfasstheiten. Wir können nicht wissen, was dabei herauskommt. Aber ich vermute, dass ein Mehr an zirkulären Erfahrungen mit unserer Nische zumindest Unterschiede im mehrheitlich linearen Selbst- und Weltempfinden generieren würde. Das Wagnis ist es allemal wert.

      Jetzt aber wieder zurück zur Katze, unserer Mentorin. Das Streunen der Katze ist ja eben auch nicht monoton, sondern rhythmisch, zyklisch, zirkulär. Vom Haus aus betrachtet, kommt und geht sie, im Territorium selbst wird sie vermutlich als begnadete Streunerin immer wieder neue Wege und Bereiche erkunden. Auf diese Weise lernt die Katze den Raum kennen und der Raum die Katze. Selbst wenn unsere Katze keine große Abenteurerin ist und – angenommen – oft auf denselben Strecken streunt, wird sie doch jedes Mal einem anderen Raum begegnen, weil das Wetter, die Ameisen, die Büsche, die Gräser, die Autos, die Menschen, die anderen Katzen, die Vögel nie und nimmer zwei Mal in der genau selben Konstellation erscheinen. Hier ist alles einmalig gegenwärtig, unwiederholbar, ganz und gar nicht verallgemeinerbar. Man könnte sagen eine einmalige besondere Erfahrung, die eine spezielle Beziehungsqualität zwischen der Katze und ihrer Nische bildet. Streunen ist so gesehen für naturwissenschaftliche Erkenntnisse ziemlich ungeeignet, weil sich aus diesem speziellen Beziehungsgeflecht nichts isoliert

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