Europäisches Prozessrecht. Christoph Herrmann
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„einen effektiven gerichtlichen Schutz der Rechte in Anspruch nehmen können, die sie aus der Unionsrechtsordnung herleiten.“[24]
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Individuen besitzen hiernach das einklagbare Recht, die aus der EU als Rechtsgemeinschaft hervorgehenden Verbürgungen geltend zu machen, um ihre Rechte aus dem Unionsrecht durchsetzen zu können. Diese Rechtsschutzgarantie stellt das rechtsstaatlich notwendige Korrelat und Korrektiv zum unmittelbar verpflichtenden und berechtigenden Charakter des Unionsrechts dar.[25]
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Als geltendes Primärrecht besitzt der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes normhierarchisch Geltungsvorrang vor dem abgeleiteten Unionsrecht und ist in der systematischen Auslegung des gesamten Unionsrechts zu berücksichtigen. Gegenüber entgegenstehendem nationalem Recht setzt sich der Grundsatz kraft seines unionsrechtlichen Anwendungsvorranges durch, wenn eine Konformauslegung nicht möglich ist.
I. Rechtsgrundlagen
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Den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes hat der EuGH frühzeitig als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts anerkannt.[26] Der Gerichtshof rekurrierte dabei auf Art. 6 und 13 EMRK. Darin hatten sich die Vertragsstaaten der EMRK, und damit alle EU-Mitgliedstaaten, verpflichtet, den ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf eine wirksame Beschwerde zuzuerkennen. Ebenfalls können diese Verbürgungen aus dem Rechtsstaatsprinzip, einem nach Art. 2 S. 1 EUV grundlegenden Wert der EU, abgeleitet werden. Der Grundsatz effektiven Rechtsschutzes ist mittlerweile in Art. 47 GRC verbürgt, nach dessen erstem Absatz
[j]ede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, (…) das Recht [hat], nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.
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Weitere Teilgewährleistungen des effektiven Rechtsschutzes finden sich in Art. 41 II GRC. Die Aufnahme in den Menschenrechtskatalog der EU nach dem Vertrag von Lissabon macht deutlich, dass es sich nicht nur um eine objektiv-rechtliche Vorgabe des Unionsrechts handelt, sondern um ein individualberechtigendes EU-Grundrecht.
II. Adressaten und Gewährleistungen
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Verpflichtungsadressat des Grundsatzes ist zum einen die Union selbst (vgl. Art. 51 I GRC), d.h. die Organe und insbesondere die Gerichte der EU. Daneben werden auch die Mitgliedstaaten, und hier wiederum insbesondere deren Gerichte, zu effektivem Individualrechtsschutz unionsrechtlich eingeräumter Rechtspositionen verpflichtet. Von diesen Rechtspositionen hat der EuGH ein weiteres Verständnis, als es nach deutscher Verwaltungsrechtsdogmatik dem von Art. 19 IV GG geschützten subjektiv-öffentlichen Recht zukommt. Ein (qualifiziertes) Interesse Einzelner ist nach dem Recht der EU bereits ausreichend.[27] Im Hinblick auf nationalrechtliche Verfahrenshindernisse stellt das Recht auf effektiven Rechtsschutz auch eine spezielle Ausprägung des Effektivitätsgrundsatzes aus Art. 4 III UA 2 EUV dar, nach dem der Vollzug von Unionsrecht nicht wesentlich erschwert oder praktisch unmöglich gemacht werden darf.[28]
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Zwei Einzelgewährleistungen des Grundsatzes verdienen besondere Beachtung: das Recht auf Zugang zu einem Gericht und das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer.
Das Recht auf Zugang zu einem Gericht garantiert einen lückenlosen und umfassenden gerichtlichen Rechtsschutz vor der Unionsgewalt und den Organen der Mitgliedstaaten, soweit diese Unionsrecht vollziehen.[29] Unter den „Handlungen der Organe“ (Art. 47 GRC) sind nicht nur konkret-individuelle Beschlüsse zu verstehen, sondern auch Normativakte. Das Rechtsschutzsystem der EU muss in diesem Sinne vollständig sein und die angefochtene Maßnahme zur Rehabilitation des Klägers oder der Schadenswiedergutmachung vollständig aus der Rechtsordnung entfernen.[30] Ob dieser Anspruch gerade in Bezug auf Rechtsschutz gegenüber Rechtsakten mit Verordnungscharakter (vgl. Art. 263 IV a.E. AEUV) eingelöst wird, ist durchaus umstritten und wird unter Rn. 265 ff. vertieft.
Das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer gewährleistet den Abschluss eines Rechtsstreites innerhalb eines angemessenen Zeitraumes.[31] Die Angemessenheit wird in einer Gesamtbetrachtung der Umstände des Einzelfalls danach bestimmt, welche Interessen auf dem Spiel stehen, wie komplex der Verfahrensgegenstand ist und welchen Einfluss das Verhalten des Klägers und der beteiligten Behörden, einschließlich der Gerichte, auf die Länge des Verfahrens hatte. Dabei ist auch das aufwändige Sprachenregime der EU zu berücksichtigen.
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Die Art. 47 II f. und Art. 41 II GRC umfassen weitere Teilgewährleistungen wie die Beachtung zentraler Verfahrensnormen, z.B. die Gewähr eines kontradiktorischen Verfahrens, den Anspruch auf rechtliches Gehör, die Waffengleichheit zwischen den Parteien oder den Anspruch auf Prozesskostenhilfe.
§ 2 Die EU als Rechtsgemeinschaft › E. Zusammenfassung
E. Zusammenfassung
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Die EU verkörpert eine Rechtsgemeinschaft, da sie durch Völkervertragsrecht geschaffen wurde, selbst rechtsetzend tätig wird und als Rechtsordnung konzipiert ist. Wesentliches Charakteristikum dieser Rechtsgemeinschaft ist die vollständige Überprüfbarkeit der Handlungen der EU und ihrer Organe sowie der Handlungen der das Unionsrecht vollziehenden mitgliedstaatlichen Behörden auf ihre Übereinstimmung mit höherrangigem Unionsrecht. Diese Aufgabe ist nach Art. 19 I EUV letztverbindlich dem GHEU, in funktionaler Aufgabenteilung aber gleichfalls den nationalen Gerichten zugewiesen. Die EU-rechtsunterworfenen Personen haben aus dem Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 47 GRC einen grundrechtlichen Anspruch darauf, sie betreffende hoheitliche Handlungen im Anwendungsbereich des Unionsrechts umfassend gerichtlich überprüfen zu lassen. Dazu gehören auch flankierende Gewährleistungen wie rechtliches Gehör und Prozesskostenhilfe.
Vertiefende Literatur:
von Bogdandy, Die EU im polnischen Kampf um demokratische Rechtsstaatlichkeit, EuZW 2016, 441 f.; von Bogdandy/Ioannidis, Das systemische Defizit. Merkmale, Instrumente und Probleme am Beispiel der Rechtsstaatlichkeit und des neuen Rechtsstaatlichkeitsaufsichtsverfahrens, ZaöRV 2014, 283 ff.; Closa/Kochenov/Weiler (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the European Union, EUI Working Paper RSCAS 2014/25; von Danwitz, Kooperation der Gerichtsbarkeiten in Europa, ZRP 2010, 143 ff.; Haratsch, Effektiver Rechtsschutz auf der Grundlage ungeschriebener Kompetenzen der Europäischen Union, FS für Scheving, 2011, S. 79 ff.; Jarass, Bedeutung der EU-Rechtsschutzgewährleistung für nationale und EU-Gerichte, NJW 2011, 1393 ff.; Kämmerer, Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs im Fall „Kadi“: Ein Triumph der Rechtsstaatlichkeit?, EuR 2009, 114 ff.; Kokott/Sobotta, The Kadi Case – Constitutional Core Values and International Law – Finding the Balance?, EJIL 2012, S. 1015 ff.; Konstadinides The Rule of Law in the European Union