Internationales Privatrecht. Thomas Rauscher
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c) Normenunverträglichkeit lässt sich regelmäßig nur im materiellen Recht korrigieren; insbesondere, wenn Rechtsinstitute aus einer anderen Rechtsordnung sich nicht in das aktuell anzuwendende Statut einbetten lassen, handelt es sich nicht wirklich um Konflikte zweier nebeneinander stehender Rechtsordnungen, so dass die kollisionsrechtliche Bevorzugung einer der beiden ausscheidet.
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Das unterhaltsrechtliche Problem des vierfachen Ehemannes (Rn 567) ist in Anwendung des deutschen Unterhaltsrechts materiell-rechtlich zu bereinigen, wobei das Phänomen mehrerer gleichrangig Unterhaltsberechtigter (zB Ehegatte und geschiedener Ehegatte) auch innerhalb des deutschen Rechts vorkommt: Bei der Bemessung des Unterhaltsanspruchs jeder der Ehefrauen nach § 1361 BGB ist der eigene Bedarf des Ehemannes ebenso zu berücksichtigen wie gegenüber einem Ehegatten; die Ansprüche der jeweils anderen Ehefrauen mindern jedoch gleichrangig die Leistungsfähigkeit des Unterhaltsschuldners. Es wird also nicht schlicht ein fiktiver Ehegattenunterhalt auf vier Ehefrauen verteilt; soweit der Ehemann leistungsfähig ist (Selbstbehalt), kann er bis zum vollen Bedarf jeder Ehefrau verpflichtet sein.
Teil II Allgemeine Lehren des IPR › § 6 Korrektur der Verweisung › C. Ordre Public
I. Problemstellung
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Der deutsche ordre public[4] wird in Ausnahmefällen durch Art. 6 gegen die Anwendung ausländischer Rechtsnormen geschützt. Grundsätzlich ist ein vom deutschen IPR berufenes ausländisches Recht so anzuwenden, wie es im Herkunftsstaat angewendet wird. Durch die Verweisung des deutschen IPR auf eine ausländische Rechtsordnung dürfen aber deutsche Gerichte nicht zu Entscheidungen genötigt werden, die im Ergebnis grundlegenden deutschen Rechtsanschauungen eklatant zuwiderlaufen.
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Art. 6 ist eine Ausnahmevorschrift, die die regelmäßige Anknüpfung durchbricht; sie hat nur eine negative Funktion, indem sie bestimmt, dass eine Norm nicht Anwendung findet. Sie schützt den sog negativen ordre public, setzt also nicht bestimmte Wertungen des deutschen Rechts positiv durch, sondern verhindert lediglich die Normanwendung, wenn elementare Wertungen des deutschen Rechts verletzt werden. An die Stelle der verdrängten Norm tritt nicht ohne weiteres die deutsche Regelung.
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Völkervertragliche und europarechtliche Kollisionsnormen enthalten ebenfalls ordre public-Vorbehalte (zB Art. 13 HUntStProt 2007, Art. 21 Rom I-VO, Art. 35 EU-ErbVO), die in gleicher Weise die öffentliche Ordnung des Staates des angerufenen Gerichts schützen. Anders als bei nur zwischen Mitgliedstaaten wirkenden Regelungen des EuZPR, wo gerne das wechselseitige Vertrauen beschworen wird, ist der Vorbehalt des ordre public im EuIPR unumstritten, da dessen Kollisionsnormen als loi uniforme auch das Recht von Drittstaaten berufen.
II. Voraussetzungen
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Voraussetzung des Eingreifens des ordre public ist, dass das bei regelentsprechender Anwendung einer ausländischen Norm erzeugte (1) Ergebnis im Einzelfall mit (2) wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts (3) offensichtlich unvereinbar ist.
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1. Art. 6 ist auf materiell-rechtliche und kollisionsrechtliche Regelungen im ausländischen Recht anwendbar. Es genügt aber nicht, dass eine solche Norm abstrakt gegen wesentliche Grundsätze des deutschen Rechts verstößt, zB formal eine ausländische Kollisionsnorm an das Heimatrecht des Ehemannes anknüpft. Zunächst ist vielmehr das Ergebnis der Anwendung der ausländischen Norm im konkreten Fall zu ermitteln, ehe beurteilt werden kann, ob sich der deutsche ordre public gegen dieses Ergebnis wendet. Eine Anpassung (Rn 562 ff), durch die im konkreten Fall ein unerträgliches Ergebnis vermieden wird, schließt die Anwendung des Art. 6 aus.
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ZB wäre es im Fall des mehrfach verheirateten Ägypters (Rn 567) verfehlt, damit zu argumentieren, dass polygame Ehen dem deutschen ordre public widersprechen. Da jede der Ehen im Ausland geschlossen wurde, fehlt es insoweit am hinreichenden Inlandsbezug (dazu Rn 590 ff). Das gleichzeitige Bestehen mehrerer Ehen einer Person ist in Abwägung gegen die kulturelle Prägung der Familie hinzunehmen, zumal selbst nach deutschem Recht eine bigamische Ehe nur aufhebbar ist (§§ 1314 Abs. 1, 1306 BGB). Was den Unterhalt angeht, wird ein unerträgliches Ergebnis, nämlich die Überforderung der Leistungsfähigkeit des Mannes, durch eine Anpassung im deutschen Recht vermieden. Anders verhält es sich in der Fallgruppe einer in Deutschland weitergeführten Kinderehe, die nicht nur im Entstehen, sondern in ihrem Bestand in Deutschland den ordre public berührt (Rn 591).
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2. Wesentliche Grundsätze des deutschen Rechts umfassen die in der Vorgängernorm (Art. 30 aF) genannten guten Sitten und den Zweck deutscher Gesetze, werden aber durch die Begriffe nicht ausgeschöpft. Art. 6 ist vielmehr eine umfassende Generalklausel, die jedoch hinsichtlich der Eingriffsschwelle eng auszulegen ist.
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a) Die guten Sitten unterliegen dabei dem Wertewandel, wie er auch in der internen Rechtsprechung zu § 138 BGB Ausdruck findet. Der Zweck eines deutschen Gesetzes ist – in Hinblick auf das Erfordernis der „offensichtlichen“ Unvereinbarkeit – eng auszulegen. Es genügt nicht, dass die ausländische Regelung grundlegend von der deutschen abweicht, selbst wenn die deutsche Regelung intern zwingendes Recht ist. Art. 6 schützt nur den internationalen ordre public, also den nach außen gerichteten Durchsetzungswillen von Grundsätzen des deutschen Rechts gegenüber einer eigentlich anwendbaren ausländischen Rechtsordnung. Der interne ordre public als Summe aller zwingenden (nicht zur Disposition stehenden) Regeln des deutschen Rechts greift erheblich weiter.
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b) Besondere Bedeutung kommt der Konkretisierung des deutschen ordre public durch die Grundrechte[5] (Art. 6 S. 2) zu. Art. 6 greift ein, wenn die Anwendung der ausländischen Norm im konkreten Fall zu einem verfassungswidrigen Ergebnis führt. „Grundrechte“ iSd Art. 6 S. 2 sind nicht nur die Grundrechte des GG, sondern auch die der Länderverfassungen sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention.
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