Allgemeines Verwaltungsrecht. Mike Wienbracke
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Beispiel[22]
Gestützt auf einen Erlass des zuständigen Landesministeriums nahm die örtliche Ordnungsbehörde auf der Bundesautobahn mittels Videoaufzeichnung Geschwindigkeitsmessungen vor. Auf dem hierdurch gewonnenen Bildmaterial ist u.a. zu erkennen, wie Autofahrer A die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 29 km/h überschreitet. Gegen den nachfolgend ergangenen Bußgeldbescheid legte A fristgerecht Einspruch ein mit dem er rügte, dass die Videoaufzeichnung ohne ausreichende Rechtsgrundlage angefertigt worden sei. Hat A Recht, wenn die Videoaufzeichnung nach keiner gesetzlichen Befugnis gestattet war?
Ja. Die von der Ordnungsbehörde angefertigte Videoaufzeichnung greift in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des A aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ein. Dieses Grundrecht ist zwar der Einschränkung im überwiegenden Allgemeininteresse zugänglich. Doch ist hierfür eine gesetzliche Grundlage erforderlich. Bei dem Erlass des Landesministeriums, auf den allein die Videoaufzeichnung gestützt wurde, handelt es sich jedoch lediglich um eine Verwaltungsvorschrift, d.h. eine verwaltungsinterne Anweisung, und gerade nicht um ein Gesetz.
Da die Grundrechte auch im Rahmen von „Sonderstatusverhältnissen“ (früher sog. besondere Gewaltverhältnisse)[23] gelten, d.h. innerhalb von Rechtsverhältnissen, in denen der Einzelne in einer engeren Beziehung zum Staat steht als im allgemeinen Staat-Bürger-Verhältnis der Fall (z.B. Beamten-, Soldaten-, Schul- und Strafgefangenenverhältnis), greift auch insoweit der Grundsatz vom Gesetzesvorbehalt; |
• | Entscheidungen, die außerhalb der Eingriffs- und Leistungsverwaltung für die Grundrechtsausübung wesentlich sind (z.B. Einführung von Sexualkundeunterricht; nicht dagegen: Rechtschreibreform), soweit diese der Regelung durch den Gesetzgeber zugänglich sind. Entsprechendes gilt für Entscheidungen mit wesentlicher Bedeutung für das Allgemeinwohl (z.B. friedliche Nutzung der Kernenergie, Stationierung von C-Waffen, Grundlinien der Rundfunkordnung) sowie für grundlegende organisatorische Maßnahmen wie die Beleihung[24] Privater, die Behördenzuständigkeit oder die Zusammenlegung des Innen- und Justizministeriums durch den Ministerpräsidenten (vgl. Rn. 49 und Rn. 51 zum sog. institutionellen Gesetzesvorbehalt).[25] |
Beispiel[26]
Die G-GmbH ist bundesweit als Kontrollstelle im ökologischen Landbau tätig. Sie überprüft landwirtschaftliche Unternehmen auf die Einhaltung der Standards des ökologischen Landbaus und zertifiziert Betriebe und Erzeugnisse nach dem Öko-Landbaugesetz. In Bayern nimmt die G-GmbH diese Kontrollaufgaben auf Grund eines Beleihungsbescheids mit folgender Nebenbestimmung wahr: „Bei Schäden, die die Kontrollstelle in Wahrnehmung ihrer Aufgaben Dritten zufügt, hat die Kontrollstelle – sofern sie in Anspruch genommen wird – keinen Ausgleichsanspruch gegen den Freistaat Bayern. Wird der Freistaat Bayern in Anspruch genommen, hat die Kontrollstelle diesen von der Haftung freizustellen.“ Hat die von der G-GmbH in zulässiger Weise gegen diese Nebenbestimmung erhobene Anfechtungsklage Erfolg, wenn für die Haftungsregelung keine gesetzliche Grundlage existiert?
Ja. Die zulässige Anfechtungsklage ist auch begründet und hat damit Erfolg, weil die in der Nebenbestimmung getroffene Haftungsregelung schon mangels gesetzlicher Grundlage rechtswidrig ist und die G-GmbH in ihrem Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 19 Abs. 3 GG verletzt (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Dass die vorliegende Haftungsregelung einer gesetzlichen Grundlage bedarf, ergibt sich aus Art. 33 Abs. 4 GG sowie den Verfassungsgrundsätzen des Rechtsstaats- und des Demokratiegebots (Art. 20 Abs. 1, 3 GG). Denn die Beleihung Privater mit hoheitlichen Befugnissen stellt eine staatsorganisatorische Maßnahme dar, die von dem Regelbild der Verfassungsordnung abweicht, nämlich dass hoheitliche Befugnisse i.d.R. Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen sind, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen (Funktionsvorbehalt für Beamte). Muss der Gesetzgeber hiernach jedenfalls das „Ob“ der Beleihung regeln, so können darüber hinaus aber auch einzelne Modalitäten der Beleihung (das „Wie“) derart wesentlich sein, dass sie der Entscheidung des Gesetzgebers vorbehalten sind. Dies ist bzgl. der hier in Frage stehenden Haftungsregelung vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Regelbilds des Art. 34 S. 2 GG der Fall, wonach bei Pflichtverletzungen, welche den Staat Dritten gegenüber zum Schadensersatz verpflichten, ein Rückgriff des Staates gegenüber dem jeweils Handelnden nur oberhalb der Schwelle von Vorsatz und grober Fahrlässigkeit vorbehalten ist. Der hiermit u.a. verfolgte Zweck, die Entschlussfreude und damit die Effizienz hoheitlichen Verwaltungshandelns zu stärken, hat unabhängig davon Bedeutung, ob der Staat durch eigenes Personal selbst handelt oder – wie hier – mittels eines privaten Beliehenen. Die vorliegende Regelung enthält eine derartige Haftungsbeschränkung auf schweres Verschulden jedoch gerade nicht.
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Demgegenüber ist eine (materiell-)gesetzliche Grundlage im Rahmen der Leistungsverwaltung, d.h. für die Gewährung staatlicher Leistungen (z.B. Subventionen[27]), nach h.M.[28] grundsätzlich nicht notwendig.[29] Vielmehr genügt es insoweit regelmäßig, wenn im jeweiligen Haushaltsplan, der als Gesetz im rein formellen Sinn keine Wirkungen im Außenverhältnis des Staates zum Bürger entfaltet (vgl. Art. 110 Abs. 2 S. 1 GG; § 3 Abs. 2 BHO, § 3 Abs. 2 HGrG; siehe auch das Beispiel in Rn. 236) – bzw. bei Selbstverwaltungsträgern wie den Gemeinden in der Haushaltssatzung –, eine Bewilligung hinsichtlich des „Ob“ der Verwendung staatlicher Mittel für bestimmte Zwecke[30] enthalten ist. Das „Wie“ der Leistungsgewährung kann dann in einer Verwaltungsvorschrift geregelt werden (Rn. 238 ff.). Ausnahmsweise bedürfen allerdings auch Subventionen dann einer formell-gesetzlichen Grundlage, wenn
• | sie in besonders (grundrechts-)sensiblen Bereichen erfolgen (so z.B. bei der Finanzierung eines die Öffentlichkeit vor bestimmten Sekten warnenden privaten Vereins [vgl. Art. 4 Abs. 1, 2 GG], bei der Gewährung von die Staatsfreiheit, Kritikbereitschaft und Freiheitlichkeit des Pressewesens gefährdenden Subventionen [vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG], bei Zahlungen an einen die Berufsfreiheit anderer einschränkenden Dritten [vgl. Art. 12 Abs. 1 GG] sowie bei der Gewährung von Zuwendungen an politische Parteien [vgl. Art. 20 Abs. 2, 21 GG]) oder |
• | die durch ihre Vergabe bewirkte Begünstigung des Subventionsempfängers in unerträglichem Maß in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Wettbewerbsfreiheit eines nicht subventionierten Konkurrenten eingreift (vgl. Übungsfall Nr. 4).[31] |
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