Beweisantragsrecht. Winfried Hassemer

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Beweisantragsrecht - Winfried Hassemer Praxis der Strafverteidigung

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      Die Vernünftigkeit und Verlässlichkeit jeglicher Wahrheitssuche besteht in der vernünftigen und verlässlichen Unterscheidung von relevanten und bedeutungslosen Informationen aus der Außenwelt. Die Vernünftigkeit und Verlässlichkeit jeglicher Selektion von Informationen aus der Außenwelt steht und fällt ihrerseits mit der Vernünftigkeit und Verlässlichkeit des Kriteriums, mit dessen Hilfe die Auswahl vorgenommen wird. Selektion ohne Kriterien gibt es nicht – und sei es das Kriterium des Zufalls, welcher die Auswahl steuert, welcher die eine Information als relevant auswählt und die andere als bedeutungslos verwirft. Werden die falschen Informationen ausgewählt und die richtigen verworfen, so sind Chaos und Desorientierung die notwendige Folge.

      Natürlich überlassen wir im Alltagsleben die Wahrnehmungsselektion nicht dem Zufall. Und wir können auch unsere Selektionskriterien nicht jeweils von Fall zu Fall neu bilden, weil wir sonst die Kontinuität und die Intersubjektivität unserer Wahrnehmung nicht herstellen könnten. Die Orientierung jedes Einzelnen im Alltag und die Verständigung unter Menschen setzen vielmehr voraus, dass die Kriterien der Selektion auf Dauer gestellt sind und dass sie – jedenfalls zu einem guten Teil – allen gemeinsam sind, die miteinander umgehen. Sehr allgemein betrachtet, folgen wir bei der Auswahl für uns relevanter Informationen einer „Erwartung“. Wir beziehen das mit in unsere Wahrnehmung ein, was wir erwarten, wir achten auf „Sinn“ oder auf „Gestalt“ und reduzieren die Komplexität unserer Umwelt hinsichtlich der Informationen, welche in unsere Sinnerwartung nicht „passen“.

      Dies bedeutet nicht, dass es keine Veränderung in den Auswahlkriterien für Informationen gäbe oder dass die Selektionskriterien für alle Individuen einheitlich verbindlich wären. Es bedeutet aber, dass Veränderungsprozesse der Sichtweisen langsam vonstatten gehen und dass die Kriterien der Auswahl zu derselben Zeit und in demselben Kulturkreis in einem hohen Maße allgemein verbindlich sind. Eine Chance für „Fortschritt“ und „Vielfalt“ von Erkenntnis liegt mithin in Kommunikation und Austausch. Übertragen auf das Strafverfahren, widerspricht diese Einsicht dem Prinzip der Inquisition und der Hoffnung, die pure gerichtliche Sachaufklärung sei der Königsweg zur Wahrheit; sie schließt aus, dass es eine bestimmte Wahrheit „gebe“, die nur zu „finden“ sei.

      Teil 1 Theoretische GrundlagenIII. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts › 5. Hermeneutik

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      Es geht um Verstehen: von Texten, von Menschen, von historischen Situationen, von Prozessen. Es geht also auch um die Beweisaufnahme im Strafverfahren. Die wichtigste Botschaft der Hermeneutik hierzu ist: Es gibt kein Verstehen ohne Vor-Verständnis, kein Urteil ohne Vor-Urteil und kein Erkennen ohne Sinnerwartung.

      „Vorverständnis“ und „Vor-Urteil“ sind nicht abwertend gemeint. Damit ist vielmehr zum Ausdruck gebracht, dass kein Mensch irgendetwas verstehen kann auf der tabula rasa einer je neuen und originären Zuwendung zur Sache, die verstanden werden soll. Verstehen kann er nur aufgrund der Fragen, welche er an die Sache hat, nur aufgrund der Vorverständnisse und Erwartungen, mit denen er an solche Sachen heranzugehen gewohnt ist. Solche Vor-Urteile sind durchaus auch Besonderheiten, die aus der jeweiligen individuellen Lebensgeschichte resultieren; es sind darüber hinaus im Wesentlichen aber auch die Sedimente unserer Kultur, unserer Tradition und unserer jeweiligen Schicht.

      Dies ist andererseits aber auch weniger harmlos als es klingt. Wenn der Prozess des Verstehens nicht nur von der Sache geleitet wird, welche verstanden werden soll, sondern auch von Vorverständnissen, welche an diese Sache herangetragen werden und außerhalb ihrer bestehen, so kann man auf ein „reines“ oder „wahres“ Verstehen nicht hoffen. Das, was wir verstehen, ist zumindest teilweise auch das Produkt unserer Vorurteile, es ist nicht nur abgeschaut, sondern auch konstituiert.

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      Als Ausweg aus diesem Dilemma empfiehlt die Hermeneutik nicht, man solle seine Vor-Urteile ablegen. Dies kann sie schon deshalb nicht empfehlen, weil sie zuvor gezeigt hat, dass es ohne Vor-Urteil ein Verstehen nicht geben kann. Es wäre aber auch naiv, dem Menschen ein Aussteigen aus seiner eigenen Geschichte und aus seiner kulturellen Tradition, seiner Welt-Sicht zu empfehlen. Derjenige, welcher von sich behauptet, er sei ohne Vor-Urteil, ist wohl dessen erstes Opfer. Der richtige Umgang mit dem Vorverständnis besteht – für das verstehende Individuum – in der Entschlossenheit, das Vorverständnis zu erkennen und transparent zu halten, sowie – für die Beteiligten am Verstehensprozess – darin, unterschiedliche Vor-Urteile zueinander in Vergleich und Konkurrenz zu setzen und ein Verfahren einzurichten, in welchem sämtliche Vorverständnisse eine faire Chance der Durchsetzung haben.

      Teil 1 Theoretische GrundlagenIII. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts › 6. Konsequenzen

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      Was allen diesen Einsichten in den menschlichen Erkenntnisprozess gemeinsam ist, lässt sich leicht sehen. Es ist auf der einen Seite die Relativität, Selektivität und Subjektivität menschlicher Erkenntnis, auf der anderen Seite die Empfehlung, diese Begrenzungen durch ein regelgeleitetes Verfahren zu überschreiten, in welchem jede einzelne Erkenntnis eine Chance hat, sich zur Geltung zu bringen.

      Übertragen auf das Erkenntnisverfahren im Strafprozess, sprechen diese Einsichten eine deutliche Sprache. Sie erweisen ein reines Inquisitionsverfahren bzw. die alleinige Zuständigkeit des Gerichts für die Aufklärung des Sachverhalts als naiv. Sie votieren demgegenüber für einen Prozess der Wahrheitsfindung, an dem mehrere unterschiedliche Vorverständnisse und Sinnerwartungen und damit mehrere Sichtweisen des Geschehens (und sogar Interessen) gleichmäßig beteiligt sind. Es versteht sich, dass der institutionelle Diskurs des Strafverfahrens die letzte Entscheidung über den richtigen Weg der Wahrheitssuche auch institutionell zuteilen muss (vgl. § 244 Abs. 6 Satz 1 StPO). Vor dieser Entscheidung muss sich, nach dieser Betrachtungsweise, ein Prozess der Konkurrenz von Vorverständnissen regelgeleitet abgespielt haben.

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      Vor diesem Hintergrund kann man das Beweisantragsrecht verstehen als den gesetzlich garantierten Versuch, Wahrnehmungsfixierungen des am Ende entscheidenden Gerichts dadurch aufzubrechen und bis zum Ende der Wahrheitssuche offen zu halten, dass konkurrierende Verständnisse in den Prozess der Wahrheitsfindung eingebracht, dass sie für die Wahrheitsfindung und ihr Ergebnis folgenreich und bedeutsam gemacht werden. Die Suche nach Wahrheit wird auf mehrere Wahrnehmende differenziert verteilt und einem transparenten Verfahren unterworfen. Das Beweisantragsrecht und seine Unentbehrlichkeit lassen sich vor diesem Hintergrund stark begründen. Es ist nicht nur eingerichtet im Interesse dessen, dem dieses Recht zusteht, sondern auch im Interesse des Beweisverfahrens, dem es auf die Feststellung der „wahren“ Tatsachen ankommt, auf die größtmögliche prozedurale Annäherung an das, was wir als die materielle Wahrheit niemals vollständig erreichen können, den Urteilen im Strafverfahren aber gleichwohl zugrunde legen müssen. Das Beweisantragsrecht ist eingerichtet im Interesse eines fairen, auf Wahrheit verpflichteten Verfahrens.

      

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