Europarecht. Bernhard Kempen
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I. Unionsrecht als eigenständige Rechtsordnung mit unmittelbarer Geltung
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Mit dem Unionsrecht haben die Mitgliedstaaten eine neue, eigenständige Rechtsordnung außerhalb des jeweiligen nationalen Rechts geschaffen. Anders als völkerrechtliche Verträge und hiervon abgeleitete Sekundärrechtsakte kommt den Bestimmungen der Unionsrechtsordnung unmittelbare Geltung zu, d.h. sie gelten direkt und – jedenfalls in Bezug auf das → Sekundärrecht – ohne weitere Vollzugsanordnung oder sonstige Zustimmung des nationalen Gesetzgebers im innerstaatlichen Rechtsraum nach Maßgabe ihres eigenen Geltungsanspruchs; lediglich das → Primärrecht der Verträge unterliegt als Völkervertragsrecht dem jeweiligen, im nationalen Verfassungsrecht wurzelnden Rechtsanwendungsbefehl.
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Die unmittelbare Geltung des Unionsrechts folgt aus dem besonderen Charakter der Verträge, welche die Gründung einer auf unbegrenzte Zeit angelegten Integrationsgemeinschaft zum Gegenstand haben, die mit eigenen Organen, mit Rechts-, Geschäfts- und internationaler Handlungsfähigkeit sowie mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist (EuGH, Urt. v. 15.7.1964, 6/64 – Costa/ENEL –, Rn. 8). Grundlage des Unionsrechts und seiner unmittelbaren Geltung ist somit eine Öffnung der innerstaatlichen Rechtsordnung durch die Übernahme unbedingter Verpflichtungen seitens der Mitgliedstaaten.
A › Anwendungsvorrang des EU-Rechts (Tobias H. Irmscher) › II. Grundlagen zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts
II. Grundlagen zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts
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Die Entwicklung einer Unionsrechtsordnung mit unmittelbarem Geltungsanspruch auch im innerstaatlichen Bereich bei gleichzeitigem Fortbestand der innerstaatlichen Rechtsordnungen, wie dies dauerhaft in den Verträgen angelegt ist, wirft die Frage ihres Rangverhältnisses auf. Diese wird durch den Grundsatz des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts geregelt, über dessen Begründung und Herleitung unterschiedliche Ansichten bestehen.
1. Herleitung
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Aus der Perspektive des Unionsrechts, wie sie v.a. vom → Europäischen Gerichtshof (EuGH) vertreten und weiterentwickelt wurde, besteht ein unbedingter und uneingeschränkter Anwendungsvorrang des Unionsrechts. Dies folgt aus dem Gebot der einheitlichen Wirkung: Um der auf der Grundlage der Gegenseitigkeit beruhenden Unionsrechtsordnung praktische Wirksamkeit zu verleihen und die Ziele der Verträge effektiv umzusetzen, bedarf es einer einheitlichen Wirkung in allen Mitgliedstaaten; diese kann sich nicht – wie im Völkerrecht – nach den verschiedenen innerstaatlichen Rechtsordnungen richten. Daraus folgt zwingend, dass die Mitgliedstaaten nicht von Unionsrecht abweichen dürfen – anderenfalls würde der Charakter des Unionsrechts und die Rechtsgrundlage der Union insgesamt in Frage gestellt. Die mit den Verträgen eingegangenen Verpflichtungen zur Beachtung und Umsetzung des Unionsrechts in Verfolgung der Zielvorgaben der Verträge sind unbedingt; ein Abweichen hiervon, soweit nicht explizit im Vertragstext vorgesehen, ist prinzipiell damit unvereinbar und unwirksam (EuGH, Urt. v. 15.7.1964, 6/64 – Costa/ENEL –, Rn. 8 ff.).
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Der Vorrang wird zudem aus den Bestimmungen abgeleitet, die die unmittelbare Geltung und Verbindlichkeit der Unionsrechtsakte (jetzt Art. 288 AEUV) anordnen, und ergänzend aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV, → Unionstreue).
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Die Verträge selbst enthalten demgegenüber keine Aussage zum Anwendungsvorrang; die von der Regierungskonferenz von Lissabon (→ Europäische Union: Geschichte) verabschiedete Erklärung (Nr. 17) zum Vorrang verdeutlicht die gemeinsame Überzeugung der Mitgliedstaaten, dass das Unionsrecht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des EuGH unter den dort genannten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten hat.
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Die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen erkennen den Anwendungsvorrang des Unionsrechts im Grundsatz an, oft freilich nur nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehls – in Deutschland also nach Maßgabe des Zustimmungsgesetzes zu den Verträgen und der vom BVerfG als „Wirksamkeits- und Durchsetzungsversprechen“ (BVerfGE 126, 286 [302] – Honeywell) bezeichneten Ermächtigung in Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG, die die Übertragung von Hoheitsrechten und – im Rahmen und nach Maßgabe der Verträge – deren unmittelbare Ausübung bzw. Anwendung erlaubt (dazu unten Rn. 67).
2. Inhalt und Auswirkung
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Der Vorrang des Unionsrechts ist mithin ein ungeschriebener Verfassungsgrundsatz der Union. Er ist Voraussetzung für die praktische Wirksamkeit der Verträge und der auf ihrer Grundlage erlassenen Rechtsakte, d.h. letztlich für den darauf fußenden Fortbestand der Union.
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Als Kollisionsregel kommt er im Einzelfall zur Anwendung, wenn eine mitgliedstaatliche Rechtsnorm, gleich ob geschrieben oder ungeschrieben, im Widerspruch oder Konflikt zu den Bestimmungen des Unionsrechts steht: Erstere darf dann nicht angewendet werden und muss unberücksichtigt bleiben.
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Voraussetzung ist allerdings ein wirklicher Konflikt in der Normanwendung, dass also die Anwendung der mitgliedstaatlichen Norm zu einem Ergebnis führen würde, das im Widerspruch zu Unionsrecht steht. Kann ein solcher Konflikt durch unionsrechtskonforme Auslegung der innerstaatlichen Vorschrift oder entsprechende Ermessensausübung vermieden werden, wird der Anwendungsvorrang nicht aktiviert; er flankiert insoweit den Grundsatz der Unionstreue.
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Der Anwendungsvorrang erstreckt sich aus unionsrechtlicher Perspektive auf alle Rechtsnormen der Mitgliedstaaten, unabhängig von ihrer Rangstufe in der innerstaatlichen Normenhierarchie und unabhängig davon, ob sie vor oder nach dem widersprechenden Unionsrechtsakt in Kraft getreten sind. Er gilt für sämtliches innerstaatliches Recht – Gesetze, Rechtsverordnungen, Einzelrechtsakte und Verwaltungsentscheidungen eingeschlossen – und erstreckt sich auch auf das mitgliedstaatliche Verfassungsrecht (s. unten Rn. 67 ff.). Auch Verfahrens- und Zuständigkeitsvorschriften, bspw. für die Ungültigkeitserklärung nationalen