Hausaufgaben ? Nein Danke!. Armin Himmelrath
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Weitgehend ausgeblendet wurde offensichtlich schon damals, was für eine enorme Zumutung Hausaufgaben für die Familien bedeuten – dass sie, damals wie heute, Stress und Spannungen auslösen, Konflikte heraufbeschwören und ganz nebenbei den Eltern die Verantwortung für das Gelingen der kindlichen Schullaufbahn in einem Maß aufbürden, wie das aus schulpädagogischer Sicht zwar seit Jahrhunderten praktiziert wird, erziehungswissenschaftlich aber kaum seriös zu begründen ist. Dass Eltern die Hausaufgaben wahlweise überwachen oder miterledigen, sich für die schulische Heimarbeit verantwortlich fühlen und als unangenehme Antreiber ihrer Kinder auftreten, ist kein neues Phänomen und war auch vor fünf Jahrzehnten bereits gang und gäbe. Wo heute die Rede von überehrgeizigen Helikopter-Eltern ist, spottete 1982 der Hamburger Erziehungswissenschaftler Wolfgang Schulz über „Diplommütter“, die die Förderung ihrer Kinder als „Management“ verstünden – ein Begriff, der zumindest damals so gar nicht zur Vorstellung von Kindheit passte. Und ein Beamter des Düsseldorfer Kultusministeriums formulierte während der Recherche der „Spiegel“-Reporter jenen schon erwähnten Schlüsselsatz, der bis heute Gültigkeit hat: „Hausaufgaben sind Hausfriedensbruch.“ Der hessische Ministerpräsident Holger Hörner nannte die Eltern wegen deren selbstverständlicher Eingebundenheit in die Hausaufgabenerledigung „Hilfslehrer der Nation“, für den Tübinger Pädagogikprofessor Walther Eifreund waren sie gar die „Sklaven unserer Schulen“. Der Erziehungswissenschaftler wählt scharfe Worte: „Sie sind es, die sich von einem steinzeitlichen Ausbildungssystem terrorisieren lassen, sich aber trotzdem arrangieren, weil sie ja ihre Kinder – koste es, was es wolle – irgendwann durch die Schule bringen müssen.“ Eltern als Getriebene eines Bildungssystems, die sich dem Druck auf ihre Kinder nicht entgegenstellen, sondern ihn noch verstärken – das klingt nicht unbedingt nur nach Anfang der 1980er Jahre.
Vielleicht aber ist so zu erklären, dass viele Eltern diese Erwartungshaltung der Schule einfach adaptierten und sich zu willfährigen Handlangern der Lehrerinnen und Lehrer machten: Sie entwickelten selbst den Ehrgeiz, dass ihre lieben Kleinen besonders gut und erfolgreich sein sollten. Und befürworteten und unterstützten dann die Hausaufgaben, diesen flächendeckenden und massiven Zeitdiebstahl an der Freizeit der Kinder. So bewerteten 56 Prozent der befragten Eltern in der Studie von Thomas Hardt die Tatsache, dass ein Kind pro Tag weniger als eine Stunde Hausaufgaben erledigen muss, als Indiz dafür, dass dieses Kind von der Schule nicht ausreichend gefordert wird.
Schließlich wird Eltern seit Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten, eingetrichtert, dass das häusliche Pauken am Nachmittag, in den Abendstunden und am Wochenende irgendwie der Reifung und Bildung der Kinder dient und dass die Hausaufgaben eine wichtige erzieherische Wirkung haben. Nur – welche das sein soll und ob sie tatsächlich eintritt, diesen Nachweis haben die Anhänger der Hausaufgaben nie geführt. Es reichte ihnen stets, mit schwammigen Formulierungen die Festigung des Erlernten zu beschwören und darauf zu verweisen, dass es schließlich schon immer so gemacht worden sei und dass die eigene Hausaufgabenzeit ja wohl niemandem geschadet habe. Eine Aussage, die bezweifelt werden darf – die aber in ihrer unspezifischen Belanglosigkeit fast wie ein Totschlagargument wirkt (und so ja auch wirken soll).
Versuche der Aufklärung hat es immer wieder gegeben. So etwa durch den Lehrer Nilmar Schwemmer, der 1980 das Buch „Was Hausaufgaben anrichten“ herausbrachte, in dem er mit zahlreichen Beispielen und Erfahrungen aus seiner Arbeit die Folgen von Hausaufgaben schildert5. Intensiv setzt er sich mit „der Fragwürdigkeit eines durch Jahrhunderte verewigten Tabus in der Hausaufgabenschule unserer Zeit“ auseinander, befragte fast 500 Schülerinnen und Schüler und wertete die Bestimmungen der Bundesländer in der damaligen BRD aus. Schwemmers Fazit war eindeutig: Hausaufgaben sind „eine latente Gefahr für den Aufbau positiver, den Lern- und Erziehungsprozess begünstigender Beziehungen“, zusätzlich stellen sie „eine Beeinträchtigung der physischen Gesundheit der Schüler [dar], weil sie deren Rekreationsphase erheblich verkürzen und den notwendigen Bewegungsausgleich zur Sitzbeanspruchung während des Unterrichts einschränken“. Außerdem seien die Aufgaben „eine ständige Gefährdung der moralischen Entwicklung der Schüler, weil sie negative Verhaltensreaktionen wie das Lügen und Betrügen provozieren können“ – dann nämlich, wenn es darum geht, ob die Schüler die Aufgaben denn alle alleine geschafft haben. Doch auch ohne diese negativen Auswirkungen bei den Kindern und in deren Familien fehle die didaktische Grundlage für Hausaufgaben, argumentiert Schwemmer: Das Gießkannenprinzip der Hausaufgaben, bei dem alle den gleichen Arbeitsauftrag erhalten, könne schon wegen des individuellen Lerntempos und der unterschiedlichen Konzentrationsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler nicht funktionieren. Die Aufgaben seien deshalb ein von Lehrerinnen und Lehrern oft völlig falsch eingeschätztes, weil „äußerst schwierig zu handhabendes methodisches Instrument“. Mit anderen Worten: Liebe Kolleginnen und Kollegen, lasst besser die Finger davon!
Schwemmer bestätigte damit Untersuchungen früherer Jahrzehnte, die den Sinn von Hausaufgaben schon in Zweifel gezogen hatten. Dazu gehören beispielsweise Studien, mit denen der pädagogische Experimentalpsychologe Ernst Meumann Ende des 19. Jahrhunderts begann. Meumann hatte bereits als Lehrer gearbeitet, bevor er 1891 promovierte und sich danach als Schüler von Wilhelm Wundt in Leipzig habilitierte. 1896 wurde er als Professor an die Universität Zürich berufen, wo er das Psychologische Laboratorium aufbaute und immer wieder Leistungsexperimente, unter anderem mit Schülern, durchführte. Die Vorlesungsverzeichnisse der Universität belegen, wie stark Meumann an experimentell erhobenen Daten interessiert war: Im Wintersemester 1898 bot er einen „Praktischen Kursus in der experimentellen Psychologie“ an, im Sommersemester 1900 ein „experimentell-psychologisches Praktikum im psychol. Laboratorium“. In dieser Zeit entstand auch eine Studie, die Ernst Meumann 1904 veröffentlichte. In dieser Publikation stellt er fest, dass die Leistungen von Schülern, wenn sie sie zu Hause und im Rahmen der Hausaufgaben erbrachten, „nach der materialen und formalen Seite im Durchschnitt beträchtlich minderwertiger“ waren als die Lösungen, die die Kinder in der Schule während des Unterrichts erarbeitet hatten. Meumann führte das auf zwei wesentliche Gründe zurück: Einerseits sei in der häuslichen Umgebung die Selbstmotivation viel schwerer zu erreichen, andererseits gebe es einen natürlichen „Gesellschaftstrieb“ des Kindes, das Aufmunterung durch den Lehrer brauche, nicht aber „Dreinreden“ und Ablenkung durch Geschwister oder Eltern. Bei den Hausaufgaben vergaßen die Kinder „öfter als in der Klasse das Großschreiben der Anfangswörter der direkten Rede“ und ließen „doppelt soviel Buchstaben und nahezu doppelt soviel Wörter aus wie in der Klasse“. Deshalb, so Ernst Meumann, sei es „prinzipiell verwerflich, dass man der Hausarbeit auch nur die Befestigung der in der Schule erworbenen Kenntnisse überlassen will“.
Das Hausaufgabenproblem ist uralt – ein historischer Rückblick
Dabei ist die Debatte über die Hausaufgaben sogar noch viel älter und die Hausaufgabe als pädagogisches Instrument mitnichten eine Erfindung des 19. oder 20. Jahrhunderts: Schon in Schulordnungen aus dem 15. Jahrhundert werden die häuslichen Arbeitspflichten der Schülerinnen und Schüler erwähnt und geregelt. Sie dienten schon damals dazu, die Kinder, so der Anspruch, das selbstständige Arbeiten einüben und den in der Schule behandelten Stoff eigenständig nacharbeiten und vertiefen zu lassen. Allein das zusätzliche Quantum an Lernzeit, so die dahinterstehende Idee, werde die Lernergebnisse schon verbessern und die Kinder disziplinieren – Dogmen, die jahrhundertelang nicht mehr hinterfragt wurde. Als dann 1592 im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken weltweit erstmals flächendeckend die Schulpflicht für Jungen und Mädchen eingeführt wurde, gehörten auch die Hausaufgaben zum Standard − und wurden fortan als nicht mehr angezweifeltes pädagogisches Instrumentarium in nahezu allen späteren Schulgesetzen übernommen.
Ein Beispiel von vielen: Der „Entwurf einer neuen Schulordnung für die gelehrten Anstalten Württembergs, verfaßt und mit höherer Genehmigung dem Druck übergeben von der hierzu beauftragten Commission von Schulmännern“6. Zehn solcher „Schulmänner“, vom „Präzeptor zu Brackenheim“ über den „Rector des Lyceums in