Hausaufgaben ? Nein Danke!. Armin Himmelrath
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Hausaufgaben ? Nein Danke! - Armin Himmelrath страница 5
Doch damit war die mittlerweile bereits fünfzehn Jahre alte Debatte keineswegs beendet. Der Dresdner Lehrer Gustav Schanze hatte auf demselben Nürnberger Kongress bereits einen Vortrag gehalten, in dem er sich sehr ausführlich mit der Hausaufgabenfrage und dem Stand der damaligen Debatte befasste12. Zwei Aspekte, die die Hausaufgaben schon damals bestimmten, stellt Schanze dabei in den Mittelpunkt seiner Überlegungen: unterrichtliche und erzieherische Ziele. Beim Unterricht kam er zu folgendem Schluss: „Auch die Übung der Unterrichtsstoffe gehört in die Schule; die Beseitigung der Hausaufgaben würde dem Unterricht und seinen Erfolgen nicht nur keinen Schaden zufügen, sondern im Gegenteil förderlich sein, indem dadurch die Stoffmenge auf ein richtiges Maß gebracht würde.“ Lediglich beim Fremdsprachenlernen könne man sehr dosiert auf den „häuslichen Fleiß“ der Schüler setzen, man müsse dabei aber sehr umsichtig nur das für zu Hause aufgeben, „was unumgänglich notwendig ist“. Schriftlich angefertigte Übersetzungen von lateinischen Texten, stellte Gustav Schanze gleich klar, gehörten nicht zu diesen unumgänglich notwendigen Aufgaben. Sie seien vielmehr „eine unnötige und darum zu vermeidende Arbeit“, die man viel besser mündlich in der Schule erledigen könne. Lediglich für ältere Schüler sei die häusliche Zusammenfassung von in der Schule gemeinsam gelesenen Stücken „von großem Nutzen“ – zum besseren Verständnis dieser Stücke und ihrer Autoren und „für die Ausbildung eines geschmackvollen und gewandten Stils“.
Im Hinblick auf die erzieherischen Folgen der Hausaufgaben redete sich Gustav Schanze damaligen Zuhörern zufolge regelrecht in Rage. Auch hier kam er zu dem Schluss: Sie müssen abgeschafft werden. Karl Roller zitiert in seinen Schilderungen längere Passagen der Rede des Dresdner Lehrers. Dabei wird deutlich, wie stark sich Schanze mit der wissenschaftlichen Literatur seiner Zeit befasst hatte und wie sehr er seine kritische Einstellung zu Hausaufgaben auf eine fundierte Basis stellen konnte. Gustav Schanze sagte: „Dr. Sulzbach äußert sich in dem vorhin zitierten in den ‚Rheinischen Blättern’ enthaltenen Aufsatz hierzu folgendermaßen: ‚Jetzt kann jeder Rechenlehrer ohne Aufgaben vollständig sein Pensum absolvieren. Und gerade hier sollte jeder dies mit Freuden begrüßen, denn in keinem Gegenstande ist die häusliche Aufgabe so wenig Maßstab des Wissens und Könnens als gerade im Rechnen, weil hier am leichtesten ‚abgeschmiert‘ werden kann und ‚abgeschmiert’ wird.‘ Robert Mönchgesang führt als moralische Bedenken unter anderem folgendes an: ‚Die häusliche Aufgabe führt zum Betrug.‘ Wer will’s leugnen? Man denke doch an die zahllosen Schlüssel und geheimen Hilfsmittel bei den Übersetzungen. Nach Raydt – ‚Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper‘, Hannover 1889 – gibt es keinen deutschen Gymnasiasten, der ohne streng verbotene Hilfsmittel seine häusliche Aufgabe anfertigt. Mit dem Betrug geht die Lüge Hand in Hand. Zahlreich sind die Beispiele hierfür. Schulhinterziehung! Hat der Knabe seine häuslichen Aufgaben nicht machen können, so versäumt er aus irgendeinem Grund die Schule. Mama bescheinigt dies sogar. Die häusliche Aufgabe züchtet die Angeberei und weckt den Neid. Namentlich bei überfüllten Klassen wird der eine Schüler bei der Revision übergangen, der andere gerügt, beide haben aber möglicherweise mit demselben Kraftaufwand gearbeitet. Dem einen glückt eine Täuschung, dem anderen zieht sie eine Bestrafung zu. Die häusliche Arbeit setzt Schule und Lehrer in Mißachtung. Die Familie beurteilt nach der Art der Revision der häuslichen Aufgabe die pädagogische Kapazität des Lehrers. Nach den unausbleiblichen, abfälligen und scharfen Urteilen bildet der Schüler sein geringschätzendes Urteil über Schule und Lehrer. Die Hausaufgaben sind mit Ausschluß derjenigen, die sich auf den fremdsprachlichen Unterricht beziehen, vom unterrichtlichen Standpunkte aus als entbehrlich anzusehen; vom erziehlichen Standpunkte aus stiften sie mehr Schaden als Nutzen. Ihre Beseitigung ist daher erstrebenswert.“13
Auch der Württembergische Gymnasiallehrerverein hatte sich auf zwei Landesversammlungen 1904 und 1905 mit dem Thema befasst; die dabei geführten Diskussionen griff Gustav Schanze in seinem Referat auf der „VII. Jahresversammlung des Deutschen Vereins für Schulgesundheitspflege“ im Juni 1906 in seiner Heimatstadt Dresden noch einmal auf und leitete daraus einen Fünf-Punkte-Plan ab:
→„Hausaufgaben in Volksschulen sind vom unterrichtlichen Standpunkte aus als entbehrlich anzusehen.
→Vom erziehlichen Standpunkte aus betrachtet, können sie ebenso sehr schaden als nützen.
→Ihre Beseitigung ist daher aus hygienischen Gründen zunächst für die vier ersten Schuljahre zu erstreben.
→Für die vier oberen Schulstufen ist die Beschränkung der Aufgaben auf ein geringeres Maß (täglich nicht über 1/2 Stunde) wünschenswert.
→Dringend zu fordern ist die gänzliche Beseitigung sämtlicher Ferienaufgaben.“14
Ein Jahr später legte Gustav Schanze noch ein weiteres Mal nach – und er fühlte sich dabei durchaus vom damaligen Mainstream der pädagogischen Debatte getragen. Tatsächlich hatte es um die Jahrhundertwende herum einen dramatischen Perspektivwechsel gegeben. Anders als es zuvor üblich war, versuchten Reformer wie Maria Montessori, der amerikanische Philosoph und Pädagoge John Dewey oder der schon genannte Axel Key, eine „Pädagogik vom Kinde aus“ zu entwickeln, die auf eigene Aktivitäten als Basis des Lernerfolgs setzte und dabei grundlegende Bedürfnisse nach Abwechslung und Freizeit nicht unterschlug. Auch die sich etwa zeitgleich entwickelnde Arbeitsschulbewegung, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts formierte und statt der bis dato üblichen obrigkeitshörigen Schule einen handlungsorientierten Unterricht mit Beteiligung der Schüler wollte, verurteilte Hausaufgaben als „Zwangsinstrumente der Schule“. Einige Reformpädagogen, wie etwa der Münchener Professor Georg Kerschensteiner, versuchten, Hausaufgaben allenfalls als freiwillige Leistung der Schüler einzuplanen – ein Ansatz, der in einem hochgradig unfreiwilligen System wie der Schule kaum umzusetzen war. Gustav Schanze jedenfalls forderte 1907 noch einmal, dass die Hausaufgaben „aus den unmethodischen Händen der häuslichen Berater in die methodische Hand des Lehrers“15 übergehen müssten. Den Einwand, dafür gebe es wegen des schon damals vollgestopften Stundenplans keine Zeit, entgegnete der Dresdner Lehrer, dann müsse eben der zu vermittelnde Stoff deutlich gestrafft werden. Und auch der angebliche Verlust an Lernmöglichkeiten durch den Wegfall des selbstständigen Arbeitens sei gar keiner, befand Schanze − schließlich würden Hausaufgaben letztlich ja nur zu Betrug, Fälschung und Täuschung führen.
Aktuelle Versuche zur Abschaffung der Hausaufgaben in der Schweiz
Es ist schon mehr als erstaunlich, dass es angesichts dieses jahrzehntelangen Diskussionsvorlaufs bis zum Jahr 1993 dauern sollte, bis im deutschsprachigen Raum erstmals eine Gebietskörperschaft flächendeckend Abstand vom jahrhundertelang gepflegten Hausaufgabenschreckgespenst nahm. Im schweizerischen Kanton Schwyz wurde damals, auch unter dem Eindruck immer neuer hausaufgabenkritischer Studien, vom Bildungsdepartement der Beschluss zum Ausstieg gefasst. Die Lerninhalte der Aufgaben, so die Vorgaben der Schulpolitik, seien fortan in die Unterrichtszeit zu integrieren; die Wochenstundenzahl für die Kinder wurde dafür um eine Stunde erhöht. Nicht nur die Schülerinnen und Schüler jubelten über die freie Zeit zu Hause, auch die Erziehungswissenschaftler und Schulforscher waren von der Abschaffung angetan – hofften sie doch, nunmehr erstmals auf breiter Basis zeigen zu können, wie stark sich die Schul- und Lernleistungen von Kindern mit und ohne „Ufzgi“, wie die Hausaufgaben in der Schweiz genannt werden, tatsächlich unterscheiden. Erste Ergebnisse deuteten bald schon auf positive Folgen der Abschaffung hin (siehe unten).
Doch die Akteure hatten bei ihrer revolutionären Neugestaltung des Schulalltags einen Faktor unterschätzt: das Beharrungsvermögen einer überwiegend bildungskonservativ