Rote Karte für den Schmerz. Michael Dobe

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Rote Karte für den Schmerz - Michael Dobe Carl-Auer Lebenslust

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führt allein die Ablenkung bei einem akuten, zu 100 Prozent organisch erklärbaren Schmerzsignal dazu, dass die wahrgenommene Schmerzstärke sich mehr als halbiert.

      Andere Studien, z. B. mit erwachsenen Rückenschmerzpatienten, zeigen, dass sich bei ihnen die Bereiche im Schmerznetzwerk, die mit dem Rücken verknüpft sind, vergrößert haben. Es hat also mit der Zeit eine mess- und sichtbare Veränderung des Gehirns stattgefunden, die dafür sorgt, dass Schmerzen »besser« und intensiver wahrgenommen werden. Allerdings gehen solche Veränderungen über viele Jahre vor sich. Es ist nicht davon auszugehen, dass solch drastische Veränderungen bereits im Kindesoder Jugendalter messbar sind. Des Weiteren ist es beruhigend zu wissen, dass Kinder und Jugendliche viel schneller als Erwachsene lernen und deswegen auch Schmerzen besser verlernen können. Dafür braucht ein Kind in den meisten Fällen die Unterstützung seiner Familie. Wenn jedoch trotz aller Versuche des Kindes, sich abzulenken, ständig auf seine Schmerzen Rücksicht genommen wird oder diese häufig thematisiert werden, muss man sich nicht wundern, wenn die Schmerzen mit der Zeit schlimmer werden. Dieser Zusammenhang gilt übrigens immer, selbst für chronische Schmerzen im Rahmen einer langwierigen entzündlichen Erkrankung.

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      Abbildung 2: Aktivierung des Schmerznetzwerks bei Konzentration auf den Schmerz

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       Aktivierung des Schmerznetzwerks, wenn man an etwas Schönes denkt

      Übrigens erklären wir in dem oben genannten Film (siehe S. 27) auch, wie das Schmerzgedächtnis funktioniert und wie Schmerzen gelernt und wieder verlernt werden können.

      Die Langzeiterfahrung von Schmerz trägt zur Gedächtnisbildung im Schmerznetzwerk des Gehirns bei. Es kommt aber noch mehr hinzu. Neueste Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass für die Entwicklung eines Schmerzgedächtnisses die Angst (z. B. vor den Schmerzen) mindestens genauso entscheidend ist wie der Schmerz selbst. Das ist kein Wunder, sondern logisch: Können wir uns noch an Dinge erinnern, die vor drei Tagen passiert sind, uns aber völlig egal waren? Wohl eher nicht. Dagegen prägen sich uns allen (hoffentlich) jene Dinge ein, über die wir uns gefreut haben, z. B. den letzten Urlaub. Wir können uns auch nach Jahren noch gut an Auslöser erinnern, vor denen wir große Angst hatten oder noch haben. Diese Erinnerungen sind meist so stark, dass wir sie nie wirklich vergessen. Und dieser Mechanismus funktioniert natürlich auch bestens, wenn Schmerz im Spiel ist. Zwei Beispiele aus unserer Praxis sollen diesen Zusammenhang verdeutlichen.

       Rita, 13 Jahre

      Rita knallte bei einem Auffahrunfall mit dem Kopf gegen den Vordersitz. Es tat so weh, dass sie dachte, es sei bestimmt etwas in ihrem Kopf kaputt gegangen. Ihr Bruder war aufgrund des Aufpralls kurz bewusstlos und sie hatte große Angst, dass ihr Bruder tot sein könnte. In dem nachfolgenden Durcheinander musste die Mutter beim Auto bleiben, während der Notarzt die beiden Kinder mit in die Klinik nahm. Keiner redete mit dem Mädchen, erst viele Stunden später wurde Rita von ihren Eltern darüber aufgeklärt, dass alles in Ordnung sei.

      Obwohl die Ärzte Rita mehrfach versicherten, sie habe keine schlimmen Verletzungen, riefen ruckartige Kopfbewegungen sowie der Anblick von Autos verstärkte Kopfschmerzen bei ihr hervor. In der Folge vermied Rita zunehmend bestimmte Kopfbewegungen. Zudem achtete sie mehr auf die Schmerzen, da sie insgeheim befürchtete, dass doch etwas in ihrem Kopf kaputt gegangen sei. Nach einem Jahr waren die Schmerzen so stark geworden, dass ein stationärer kinderschmerztherapeutischer Aufenthalt unumgänglich wurde. Erst als sie lernte, sich ihren Ängsten zu stellen, den Schmerz aktiv zu beeinflussen und anfing zu begreifen, dass ihr Kopf gesund war, gingen die Schmerzen langsam zurück, bis sie eines Tages keine Dauerschmerzen mehr hatte.

      Bei diesem Beispiel haben wir es mit einer unglücklichen Verkettung von Umständen zu tun, bei denen Angst und Schmerz eine gemeinsame Ursache haben. Aber erst die Angst führte dazu, dass die schmerzbezogenen Erfahrungen immer wieder neu erinnert und somit zunehmend besser gelernt wurden.

      Ein zweites Beispiel soll das Gefühlsleben von Julia verdeutlichen, die unter einer nicht behandelten kindlichen Migräne litt. Die damit einhergehende Angst vor Schmerzen führte zu einer erhöhten Aufmerksamkeit, die sich auf den eigenen Körper richtete, und schließlich zu einem gelernten Dauerschmerz.

       Julia, 14 Jahre

      »Verzweiflung, Angst, Aussichtlosigkeit. Als Spirale. Und man fällt und fällt, aus dem einen entwickelt sich das andere. Angst. Aussichtslosigkeit. Verzweiflung. Man weiß, man sollte nicht so denken, das hilft auch nicht, im Gegenteil. Aber es kommt einfach. Rundrum. Rundrum. Schmerz. Übel. Laut. Hell geht grad. Und man denkt, wenn es nichts gibt, was hilft, was dann? Nicht dran denken. Aber es ist so stark. Übel. Damit kann man, kann ich nicht leben. Angst. Schmerz, Schmerz, Schmerz. Angst ist der wahre Schmerz.«

      Erst eine vernünftige medikamentöse Attackentherapie der Migräne (keine Dauermedikation!), eine Verringerung der Angst vor Schmerzen sowie das Erlernen von Schmerzbewältigungsstrategien führten bei Julia zu einem dauerhaften Erfolg mit nur noch wenigen Migräneattacken im Jahr.

       Warum müssen Ärzte und Psychologen immer so kompliziert reden?

      Jana, 12 Jahre

      Im Folgenden geben wir die Aufzeichnungen über Schmerz und Schmerzgedächtnis des 13-jährigen Jonas ohne Kürzung wieder, um die Zusammenhänge noch etwas eindrücklicher darzustellen.

       Jonas, 13 Jahre

      »Im Hinterkopf befindet sich ein so genanntes Schmerztor, durch das alle Schmerzen geleitet werden. Wenn man wie ich oft und lange Schmerzen hat, wird dieses Schmerztor ausgebaut und reagiert immer empfindlicher auf Schmerzreize. So kann es nach einiger Zeit passieren, dass jemand einen eigentlich leichten Schmerz als furchtbare Qual empfindet, weil die Schmerzgrenze herabgesetzt wurde und die Schmerzempfindlichkeit sehr zunimmt. Außerdem kommt es dazu, dass es im Gehirn eine Art Schmerzgedächtnis gibt, in dem sich das Gehirn das Schmerzsignal merkt und regelmäßig Schmerzen angibt, ohne dass es im Körper noch eine organische Ursache dafür gibt.

      Eine Möglichkeit, das Schmerzgedächtnis in Gang zu setzen, sind Gefühle, die mit dem Schmerzzustand verbunden werden. Wenn man zum Beispiel wie ich sehr lange und starke Schmerzen hatte und niemand weiß, was man dagegen tun kann, fühlt man sich irgendwann sehr hilflos. Dieses Gefühl wird im Gehirn verbunden mit dem Schmerzsignal. Wenn dann später aus egal welchen Gründen ein Gefühl der Hilflosigkeit auftritt, zum Beispiel weil man eine Mathematikhausaufgabe nicht versteht oder nicht weiß, wann der Zug nach Hannover fährt oder so ähnlich, dann ist das Gehirn programmiert auf ›Hilflosigkeit gleich Schmerzsignal‹ und sendet Schmerzen.

      Auf die Idee, diesen Vorgang ›cerebral‹, das heißt im Gehirn, zu untersuchen, kam man, weil man immer wieder die so genannten ›Phantomschmerzen‹ beobachtete. Man beobachtete, dass Patienten, denen zum Beispiel ein Bein abgenommen worden war, starke Schmerzen in diesem nicht mehr vorhandenen Bein hatten und darunter sehr litten. Aber es war ja gar kein Bein mehr da, das weh tun konnte. So begannen die Ärzte, diesen Vorgang zu untersuchen, und sie stellten fest, dass der Schmerzablauf nur noch im Gehirn stattfindet und dort immer wieder neu in Gang gesetzt wird. Ich habe mich öfter an verschiedene Schmerzen erinnert, und prompt hatte ich dieselben Schmerzen wie damals.

      Der

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