Rote Karte für den Schmerz. Michael Dobe

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Rote Karte für den Schmerz - Michael Dobe Carl-Auer Lebenslust

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da ist, und das über einen längeren Zeitraum (und dies nicht in Verbindung mit einer sichtbaren oder messbaren Entzündung oder Verletzung steht), gibt es offenbar nichts, wovor er warnt. Abgesehen davon würden unbehandelte Entzündungen oder Verletzungen mit der Zeit entweder stärkere Schmerzen verursachen – oder abklingen, wenn sie von selbst ausgeheilt sind.

      4 Die wahrgenommene Schmerzstärke hat demzufolge meist wenig, häufig gar nichts mehr mit einer Verletzung oder Entzündung zu tun: Das, was das Kind oder der Jugendliche an Schmerzen empfindet, ist also losgelöst von einer körperlichen Ursache zu betrachten. Der Schmerz hat sich verselbstständigt und ist zu einer eigenständigen Erkrankung geworden.

      Im Folgenden soll erläutert werden, wie es zu solch einem Schmerzphänomen kommen konnte und wieso weder ein ausschließlich organisches noch ein ausschließlich psychologisches Vorgehen sinnvoll ist.

       Also, Teufelskreis passt wirklich sehr gut!

      Marius, 17 Jahre

      Wenn Eltern zu uns in die ambulante oder stationäre Behandlung kommen, sind meist schon viele Monate vergangen und viele Behandlungsversuche unternommen worden. Im Schnitt vergehen über drei Jahre, bis Kinder in unsere stationäre schmerztherapeutische Einrichtung aufgenommen werden. Dies ist eine lange Zeit, und bei der Frage, ob etwas Besonderes zu Beginn der Schmerzen passiert sei, erinnern sich viele Eltern nicht mehr daran und verneinen gereizt. Wir stellen allerdings häufig im Verlauf der Behandlung fest, dass zu Beginn der Schmerzen durchaus ein akuter Schmerz stand. Dies muss kein schwerwiegendes Ereignis gewesen sein, z. B. kann es sich dabei um eine Infektion, eine Migräneattacke, eine Verletzung aufgrund eines Unfalls oder eine Grippe mit Schmerzen gehandelt haben.

      Das verwundert nicht, muss doch auch ein chronischer Schmerz irgendwann einmal seinen Anfang genommen haben. Manchmal können aber auch belastende Lebensereignisse wie z. B. ein Todesfall in der Familie oder die Trennung der Eltern als so schlimm empfunden werden, dass es im wahrsten Sinne des Wortes weh tut. Anhand von Spezialaufnahmen des Gehirns konnten Forscher herausfinden, dass z. B. das Gefühl, sozial ausgegrenzt zu werden, tatsächlich einen Teil des Schmerznetzwerks im Gehirn aktivierte und die Versuchspersonen angaben, leichte Schmerzen zu haben.

      Zudem wird eine genetische Veranlagung diskutiert. Schließlich entwickelt nicht jeder chronische Schmerzen. Es gibt Berichte von Menschen, bei denen eher zufällig ein Bandscheibenvorfall festgestellt wurde; Schmerzen hatten sie jedoch nicht. Leistungssportler gehen regelmäßig über ihre Schmerzgrenze und entwickeln trotzdem in der Regel keine Schmerzstörung. Umgekehrt gibt es Menschen, die schon bei geringeren organischen Auslösern längere und stärkere Schmerzen empfinden.

      Häufig, aber nicht immer, können zudem psychische Stressoren eine Rolle spielen. Diese sind vielfältiger Natur. So spielen z. B. Paarkonflikte der Eltern, schulische Über- oder Unterforderung, langwierige Krankheitsfälle in der Familie, Termindruck, mangelnde Struktur im Alltag, elterliche Vernachlässigung oder Überfürsorglichkeit sowie ein geringes Selbstbewusstsein eine Rolle. Diese psychischen Stressoren erhöhen allerdings nur die Wahrscheinlichkeit, dass aus einem akuten Schmerz mal ein chronischer Schmerz wird, die alleinige Ursache sind sie nicht. Sonst müssten ja fast alle Kinder und Jugendlichen unter chronischen Schmerzen leiden.

      Ein weiterer Einflussfaktor sind sehr belastende (traumatische) Lebensereignisse. Neueste Studien konnten nachweisen, dass traumatische Lebensereignisse im weiteren Verlauf die Wahrscheinlichkeit deutlich erhöhen, dass aus einem akuten Schmerz einmal ein chronischer Schmerz wird. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass nach einem solch traumatischen Lebensereignis die Fähigkeit, mit Stress umzugehen, dauerhaft gestört ist. Die Verarbeitung in jenem Teil des Schmerznetzwerks, der für die Schmerzwahrnehmung zuständig ist, wird dauerhaft verändert. Die ohnehin schon belasteten Kinder und Jugendlichen werden tatsächlich schmerzempfindlicher. Das Risiko steigt, dass aus einem beliebigen akuten Schmerz ein chronischer Schmerz wird.

      In der Regel finden Schmerzen nicht im Verborgenen statt und werden nicht verheimlicht. Damit hat es natürlich auch einen Einfluss auf das Schmerzempfinden, wie jemand aus der Familie des Kindes auf dessen Schmerz reagiert. Fragt z. B. die Mutter oder der Vater ständig nach, ob und wie schlimm es wehtut? Wird das Kind schon von der Schule nach Hause geschickt, wenn der Lehrer nur vermutet, dass es ihm nicht so gut geht? Muss das Kind seine Hausaufgaben nicht mehr machen, weil es Schmerzen hat?

      Die folgende Abbildung zum »Teufelskreis der Schmerzen« illustriert, wie Schmerz, wenn er einmal da ist, nach und nach chronisch und schließlich zu einem Dauerschmerz werden kann.

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       Abbildung 1: Der Teufelskreis der Schmerzen

      Der Teufelskreis der Schmerzen ist ein stark vereinfachtes Modell der sehr komplexen Vorgänge, die zwischen Gehirn und Körper ablaufen. Was passiert dabei? Zunächst gibt es ein Schmerzsignal (1a). Denn am Anfang ist es tatsächlich nur ein Signal, das wir möglicherweise gar nicht registrieren. Erst wenn unser Gehirn entscheidet, dass es wichtig genug ist, um wahrgenommen zu werden (Öffnen des Schmerztors (a)), können wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten (2).

      Uns allen ist es schon öfter passiert, dass wir uns irgendwo aus Versehen geritzt oder gestoßen oder abends einen blauen Fleck entdeckt haben, ohne dass wir es im Augenblick der Verletzung bemerkt hätten – einfach weil etwas anderes gerade sehr viel wichtiger war. Ein Fußballer steht nach einem Foul in der Regel wieder auf und wird sich wieder auf den Ball und seinen Gegner konzentrieren und somit auch starke Schmerzen für den Augenblick gut in den Hintergrund verdrängen können. Es gibt genügend Beispiele aus dem Leistungssport, in denen Sportler trotz ihrer Verletzung das Spiel zu Ende spielten und sogar noch das Spiel für ihre Mannschaft entscheiden konnten. Wie ist das möglich?

      Eine entscheidende Rolle dabei spielt unser Kopf. Entweder er entscheidet, dass ein dringender Termin jetzt gerade unsere ganze Aufmerksamkeit beansprucht und der kleine blaue Fleck, den wir uns in der Hektik beim Zusammenstoß von Bein und Tisch geholt haben, vernachlässigbar ist. Oder unser Kopf entscheidet, dass es gerade nichts Wichtigeres als diesen Zusammenstoß und diesen Schmerz gibt, sodass wir uns auf ihn konzentrieren. Es ist also von zentraler Bedeutung, wie wir den Schmerz bewerten.

      Nun sind wir Menschen ungekrönte Meister im Bewerten, im Schubladendenken und im Grübeln über andere. Eigentlich bewerten wir Menschen alles, was gerade passiert. Auch das, was wir gerade in diesem Augenblick lesen, bewerten wir daraufhin, ob es zu unseren Erfahrungen und Überzeugungen passt (b). Kinder und Jugendliche sind da nicht anders. Normalerweise finden Kinder und Jugendliche Schmerzen doof und wollen, dass sie verschwinden. Wenn Schmerzen aber länger andauern, kommen viel negativere, »schwärzere« Gedanken dazu (3). So beschreiben viele Kinder und Jugendliche, dass sie in ein regelrechtes »Schmerzloch« fallen, aus dem sie aus eigener Kraft kaum herauskommen. Typische Gedanken sind dann: »Es hat doch sowieso alles keinen Sinn«, »Warum gerade ich?«, »Hört der Schmerz denn nie auf?«, »Verdammt, ich kann mich einfach nicht mehr konzentrieren«, »Ich kann nicht mehr«, »Ich drehe bald durch« usw.

      Leider neigen wir automatisch dazu, Ähnliches mit Ähnlichem zu vergleichen. Das bedeutet, dass sich zu den ohnehin schon negativen Gedanken sehr wahrscheinlich auch noch negative Erinnerungen hinzugesellen, die mit den Schmerzen etwas zu tun haben können (z. B. an einen früheren schmerzhaften Unfall), aber nicht müssen: So fiel z. B. einem achtjährigen Mädchen immer dann, wenn es starke Kopfschmerzen

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