Der Blick in den See. Mart Rutkowski

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Der Blick in den See - Mart Rutkowski страница 7

Der Blick in den See - Mart Rutkowski Praktische Erlebnispädagogik

Скачать книгу

lauter Prozesse parallel am Laufen35 – auch wenn nicht jeder Prozess auf Deinem Bildschirm angezeigt wird. Und jetzt überlege mal, was das für erlebnispädagogische Situationen bedeutet.

      Im Folgenden werde ich ein paar interessante Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften knapp zusammenfassen und mit unserem erlebnispädagogischen Handeln verknüpfen. Ich werde den Gedanken stets eine These voranstellen – denn die interdisziplinäre Diskussion um neurophysiologische Ergebnisse und ihre pädagogischen Schlüsse ist noch weit davon entfernt, dass man sie als abgeschlossen bezeichnen kann. Schon jetzt möchte ich ankündigen, dass die meisten der hier aufgeführten Erkenntnisse in ihrer Verkürzung trivial anmuten, da sie weitgehend dem entsprechen, was wir Erlebnispädagogen bereits seit geraumer Zeit in unserer Praxis umzusetzen versuchen. Aber ein wenig Bestätigung ist doch auch mal ganz schön! Gleichzeitig muss betont werden, dass am Schluss keine Patentrezepte oder pädagogischen Konzepte stehen werden. Denn es ist eine mechanistische Annahme, dass wir nur den „richtigen Neuroknopf“ finden müssten, um unsere Intentionen in andere Menschen hinein zu transferieren. Alles, was wir vermögen, ist einen unterstützenden Rahmen zu schaffen, in dem Menschen ihre eigene Welt konstruieren und ggf. modifizieren. Daher wird auch dieses Kapitel nicht mehr sein als der Hinweis auf eine neue Fährte.

      Wer sein Fachwissen im Bereich der Hirnforschung praxisorientiert vertiefen möchte, dem möchte ich – neben der im Anhang angegebenen Literatur von Hüther, Spitzer und Roth – insbesondere die Masterarbeit ➔ „Neurobiologisches Wissen für Kommunikationstrainings“ von Hannes Horngacher (Salzburg 2011, als E-Book erhältlich) sehr empfehlen! Einen aus neurodidaktischer Sicht hilfreichen Katalog für die pädagogische Praxis haben Heckmair und Michl in ihrem Buch „Von der Hand zum Hirn und zurück“ (Augsburg 2013) dargestellt.

       These Nr. 1: Das (soziale) Gehirn ist entwicklungsfähig und formbar

       Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften:

      Für uns sehr interessant ist das sog. ➔ „limbische System“, welches als Sitz des Psychischen gilt und für Gefühle, Motive, Ziele und die Bewertung von Handlungen und Ereignissen zuständig ist. Interessant ist, dass das limbische System tatsächlich maßgeblicher unser Handeln beeinflusst als jegliche in der Großhirnrinde produzierten „Vernunftsargumente“. Das limbische System hat quasi das erste und das letzte Wort bei Entscheidungen – der Einfluss der Ratio ist begrenzt. Das limbische System besteht nicht aus einem Hirnareal, sondern aus einem komplexen Netzwerk verschiedener Zentren. Es lässt sich in einen unteren, oberen und mittleren Teil unterscheiden. Die Areale, die zur unteren und mittleren Ebene des limbischen Systems gehören, sind zuständig für ➔ unbewusste Emotionen, Triebe und vegetative Funktionen – und entscheiden darüber, wie das Gehirn mit neuen, noch nicht bewussten Informationen umgehen soll. Bemerkenswert: Gerhard Roth merkt an, dass über den Hippocampus (s.o.) transportierte Geschehnisse durch bestimmte Teile des mittleren limbischen Systems und der ➔ Amygdala (= Areal, das an Angst, Abwehr, Aggression, Erregung und affektiven Zuständen beteiligt ist) emotional „eingefärbt“ werden würden – was einen Einfluss auf die Verankerung im Langzeitgedächtnis habe. Wenn man all diese komplexen Informationen zusammenfassen wollte, könnte man sagen, dass das untere und mittlere limbische System viel Einfluss darauf haben, welche Qualität eine Information bekommt und was anschließend mit der Information geschieht. Wie stark dies unser Leben beeinflusst wird daran ersichtlich, dass Prägungen und Erlebnisse der frühen Kindheit, welche unversprachlicht und unbewusst verarbeitet werden, sich ganz grundsätzlich auf unsere Persönlichkeit auswirken, etwa in unserem Bindungsverhalten. Teile der Großhirnrinde in Stirn- und Scheitellappen hingegen sind (je nach Auffassung)

      Teil der „oberen“ limbischen Ebene bzw. interagieren mindestens sehr eng mit ihr. Die obere limbische Ebene ist die Ebene bewusster Gefühle und Motive sowie zugleich der Sozialisation und Erziehung. Interessant ist, dass hier auch ethisches und reflexives Ich enthalten sind. „Diese Ebene bildet sich langsam bis zum Erwachsenenalter hin aus und ist entsprechend leichter zu verändern, hat aber einen geringeren Einfluss auf unsere Persönlichkeit.“36

       … und das bedeutet für die EP

      Zunächst einmal: Menschen werden stark von unbewussten Anteilen und frühkindlichen Erfahrungen geprägt. Diese Prägung ist mitverantwortlich für bestimmte Selektionen und individuelle Interpretationen von Information: Der Grund, warum wir die Welt unterschiedlich wahrnehmen und deuten, Gesagtes zwangsläufig nur gemäß unserer Sichtweise verstehen u.v.m. Wir können an diese prägenden, in der frühen Kindheit gemachten und unbewusst verarbeiteten Erfahrungen praktisch nicht herankommen. Dazu müssten sie versprachlicht werden können. Unbewusste Prägungen entziehen sich aber i.d.R. der Versprachlichung. Unbewusste Prägungen kann man auch nicht „löschen“ – maximal das daraus resultierende Verhalten kann „überlernt“ werden. Selbst Psychotherapie schafft „nur“ den Zugriff auf Vorbewusstes – was aber schon jede Menge ist! Dies bedeutet den Abschied von der Phantasie eines grundlegenden Wechsels des persönlichen „Betriebssystems“.

      Dennoch: Soziales Lernen ist und bleibt sinnvoll. Denn wir können einen Zugang zu Ebenen schaffen, die für unter-/vorbewusst und bewusst erlebte Emotionen zuständig sind – auch und gerade mit Hilfe der Erlebnispädagogik. Wenn wir es schaffen, dass Emotionen bewusst erlebt und wahrgenommen werden – und wir via Reflexion sogar den Schritt der Versprachlichung schaffen (wodurch nochmal andere Gehirnareale aktiviert werden müssen) – dann können wir sehr begründet darauf hoffen, dass der erste Schritt neuer Verhaltens- und Sichtweisen von sozialem Miteinander gelungen ist. Dabei zu berücksichtigen: Bzgl. sozialer und kommunikativer Inhalte geht es nicht nur um Entwicklung neuer Verknüpfungen. Es geht auch um Wiederholung (= Verstärkung der neuen synaptischen Verschaltungen) und um die Anwendung in unterschiedlichen Situationen und Kontexten.37 Das kennen wir als „Soziales Training.“ Dies braucht gehirnphysiologisch Zeit – was uns nochmals darauf hinweist, über die sinnvolle Mindestdauer erlebnispädagogischer Programme nachzudenken.38

       These Nr. 2: Bedeutsame Erlebnisse sind wichtig für unsere Persönlichkeit

       Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften:

      „Beim Einspeichern sind Gestalthaftigkeit (also klare Erkennbarkeit und Abgrenzbarkeit), Sinnhaftigkeit, die Anschlussfähigkeit an früher erlernte Inhalte, die emotionale Einfärbung und der emotionale Kontext wichtig, und je schwächer diese Faktoren ausgeprägt sind, desto schneller vergessen wir die Inhalte.“39 Es muss beachtet werden, dass das hier beschriebene „Einspeichern“ sich bei Roth zunächst einmal auf Wissensinhalte bezieht – nicht primär darauf, neue Verhaltensweisen in unser Selbstkonzept zu integrieren. Das Zitat kann m.E. dennoch übertragen werden, denn all diese Faktoren gelten beim Sozialen Lernen ebenso. Eine wichtige Rolle hierbei spielen das „episodische“ bzw. das mit ihm in Zusammenhang stehende „autobiographische Gedächtnis“. Das sogenannte „episodische Gedächtnis“ wird von Hippocampus, Stirn- und Temporallappen (= Teile des oberen limbischen Systems) sowie der Amygdala und Teilen des mittleren limbischen Systems gebildet bzw. beeinflusst. (Man nimmt an, dass der Hippocampus für die Erinnerungen von Details, die Amygdala und das mittlere limbische System für die emotionale Färbung zuständig sind.40) Mit Hilfe des episodischen Gedächtnisses werden vergangene Ereignisse und Erfahrungen im Zusammenhang mit bestimmten Kontexten gespeichert, erinnert und abgerufen – sowie mögliche zukünftige Erfahrungen erdacht. Es gibt unterschiedliche Meinungen über Stärke und Dauer der episodischen Gedächtnisleistung. Damit eine Erfahrung autobiographisch relevant wird (das sog. ➔ „autobiographische Gedächtnis“ wird dem episodischen Gedächtnis zugeordnet) und dies auch langfristig bleibt, bedarf sie der Bedeutungsgebung durch das Individuum. Hierbei kann jegliche Form der Reflexion eine unterstützende Rolle spielen. Das o.g. Problem der Enkodierungsspezifität von Erlebnissen darf nicht zu schwarz-weiß betrachtet

Скачать книгу