Der Blick in den See. Mart Rutkowski
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These Nr. 5: Versprachlichung hilft bei der Integration von Gedanken
Erkenntnisse? – nur Spuren:
Bedauerlicherweise habe ich für diese These nicht ausreichend gesicherte Antworten gefunden. Aber immerhin ein paar Argumente und Hinweise, die eine spannende Spur verheißen.
Zunächst zur Wortwahl: Mit „Versprachlichung“ meine ich nicht nur ausgesprochene Gedanken, sondern auch geistig formulierte, aber nicht laut ausgesprochene Gedanken. Es geht mir rein um den Schritt der potentiellen Verbalisierung – ob schriftlich, mündlich oder konkret erdacht, ist zweitrangig. Und natürlich geht es mir um die Sinnhaftigkeit von Reflexion in erlebnispädagogischen Prozessen. Bzgl. des Effekts von Versprachlichung äußert sich die neurophysiologische Literatur nur sehr begrenzt. Man kann überall nachlesen, was der Versprachlichung selbst voran geht, wie sie funktioniert – aber nicht, welchen neurophysiologischen Effekt sie anschließend auf den Sprechenden selbst hat. Sicher ist aber:
Eine Versprachlichung von Gedanken steht relativ am Ende eines bewussten Verarbeitungsprozesses. Man könnte salopp sagen: Ich kann erst dann etwas in Worte fassen, wenn es in meinem Bewusstsein angekommen ist. Aber wozu sollte ich dann noch über das Erlebte reden? Wieso dazu Tagebuch schreiben? Warum durch eine Frage fokussiert darüber nachdenken? Schließlich ist der Gedanke ja schon da, wo er sein soll: In einem assoziativen Teil meiner Großhirnrinde.
Ein Argument basiert auf der Doppelcodierungstheorie nach Allan Paivio: Diese Theorie besagt, dass Inhalte leichter abgerufen werden können, wenn die entsprechenden Inhalte in zwei verschiedenen Speichersystemen abgelegt werden; so etwa, wenn Erlebnisse aus dem episodischen Gedächtnis in den für formulierbare Fakten zuständigen semantischen Speicher aufgenommen werden. Vielleicht lässt sich das Prinzip mit einem Text vergleichen, den man ausdruckt und abheftet und zusätzlich noch auf einer externen Festplatte speichert: Man nutzt tatsächlich ganz unterschiedliche Formen der Aufbewahrung und beide haben spezifische Vorteile. Oder man stellt sich ein zweites Kletterseil vor: Durch Versprachlichung eines Bildes wird dieses Bild quasi redundant in meinem Kopf gesichert.50 Dies ist eine mögliche Erklärung.
Dann möchte ich einen Zweifel an der Unabhängigkeit von für Sprache zuständigen Hirnarealen und Inhalten des Bewusstseins anmelden. (Dies betrifft nicht die frühkindliche Gehirnentwicklung, bei der Spracherwerb und Denken weitgehend getrennte Prozesse darstellen. Es geht bei der Anmeldung dieses Zweifels um den Entwicklungsstand von jenen Menschen, mit denen wir reflektierend im Kreis sitzen.) Wenn ich über etwas bewusst nachdenke, denke ich es quasi ausschließlich versprachlicht oder in Bildern. Diffuse unter-/vorbewusste Gefühle kann ich häufig (noch) nicht in Worte fassen – aber in dem Maße, wie mir etwas bewusst wird, bekommt es häufig auch eine Sprache. (Übrigens genau in dieser Reihenfolge!51) Ich behaupte hier keine untrennbare Verbindung zwischen Sprache und Denken, denn diese Hypothese gilt nicht nur als streitbar; sie zwingt auch dazu, solch allgemeine Begriffe wie „Sprache“ und „Denken“ eindeutig zu definieren – was die Diskussion schon an der Basis erschwert. Aber auf der Grundlage alltäglicher Beobachtungen kann man immerhin eine starke Kopplung oder zumindest hohe Zeitnähe von Bewusstwerdungsprozessen und der (inneren) Versprachlichung von Gedanken behaupten.
Eine andere interessante Idee besteht darin, dass die Externalisierung eines Gedankens im Sinne eines optischen oder akustischen Reizes ja auf mich zurückwirkt: Ich sehe, was ich schreibe – ich höre, was ich gerade selbst sage. Ich spüre, dass mein Herz schneller schlägt, während ich rede. Ich höre mein Zittern in der Stimme. Indem ich etwas von mir gebe, wirkt es quasi in Form eines Reizes, der durch eine weitere Wahrnehmungsschleife läuft, auf mich zurück.52 Es ist jedenfalls – nach allem, was wir jetzt schon über das Gehirn wissen – eher unwahrscheinlich, dass etwas, das ich ausdrücke, an mir selbst sang- und klanglos vorbeigeht. Wahrscheinlicher ist sogar, dass die Wahrnehmung des eigenen externalisierten Gedankens verstärkend wirkt. Wie stark die Wirkung dieses Effekts ist, kann ich allerdings nicht beurteilen – noch dazu, weil die Wirkung mit Sicherheit individuell variiert. Was dieser Gedanke auch nahelegt ist, dass mir mein Gehirn im Akt der Externalisierung eine „fokussierte Aufmerksamkeit“ schenkt.
Möglich ist auch, dass die Intention der Versprachlichung mich zu inneren Ordnungsprozessen zwingt, welche der Versprachlichung selbst vorangehen.53 In der Praxis von Therapie und Kommunikationstraining gibt es einige Begriffe, die hier andocken: ➔ Dialog des inneren Teams und ➔ intrapersonelle Kommunikation sind nur zwei davon.
All dies sind Hinweise – keine Beweise, dass es sich tatsächlich so verhält. Aber Hinweise reichen möglicherweise aus, der Spur zu folgen und das Zusammenwirken von Gedanken und Sprache weiterhin zu erforschen.
So what: Erlebnisorientierte Neuropädagogik?
Wozu dieses Kapitel? Im Grunde geht es um einen neuen Vorschlag, Erlebnispädagogik zu betrachten – diesmal aus der Perspektive einer relativ jungen, naturwissenschaftlichen Disziplin. Gleichzeitig scheint es so, als würden uns auch genau durch diesen (möglicherweise unbeholfenen) Versuch, der EP ein Fundament zu geben, Grenzen aufgezeigt: Die der erlebnispädagogischen Arbeit in gleichem Maße wie jener Idee, auf der Basis neurowissenschaftlicher Erkenntnisse eine eigene Didaktik oder gar Pädagogik aufzubauen. Denn wie bereits gezeigt, sucht sich das Gehirn selbst heraus, was es lernt. Und wofür es sich entscheidet, hängt maßgeblich mit der individuellen Geschichte (und den daraus resultierenden spezifischen Verschaltungen) des einzelnen Menschen zusammen. Es bleibt aber anzuzweifeln, dass wir im Regelfall so hochgradig individualspezifisch arbeiten können, dass wir über den zu erwartenden Lerneffekt Vorhersagen machen könnten. Darum wird die Erlebnispädagogik so rasch keine neuen und genialen neurodidaktischen Konzepte entwickeln, sondern weiterhin eine aus neurowissenschaftlicher Perspektive eher oberflächliche, dafür jedoch funktionierende Praxis gestalten.
Umgekehrt konnte ich mich bei der Recherche zu diesem Kapitel nicht des Eindrucks erwehren, dass die Neurowissenschaften überwiegend erforschen und beschreiben. Pädagogisch oder didaktisch neuartige Konzepte, welche die gängige erlebnispädagogische Praxis radikal verändern würden, habe ich bislang nicht gefunden. Die universelle Neurodidaktik oder Pädagogik kann es vermutlich auch gar nicht geben – mit diesem Ansinnen würde die Gehirnforschung der Komplexität, Wandelbarkeit und Vielfalt ihres eigenen Forschungsgegenstandes nicht gerecht. So ernüchternd dies zunächst anmutet, so entlastend ist es auch, denn es nimmt allen Beteiligten den Erfüllungs- oder Beweisdruck. Der interdisziplinäre Fachdiskurs bleibt fruchtbar: Wir Erlebnispädagogen können mit Hilfe der Gehirnforschung immer wieder darüber nachdenken, was wir da eigentlich gerade tun und wie wir es tun. So entrinnen wir vielleicht der Versuchung, unsere Arbeit nur über unsere Erfahrung zu begründen. Den Neurowissenschaftlern hingegen mag es vielleicht ein Ansporn für neue Gedankenentwicklungen sein, dass hier Leute stehen, welche die berechtigte Frage stellen: „Und was machen wir jetzt mit all diesen Erkenntnissen praktisch?“
Viele Fragen sind und bleiben offen. Ein paar kleine Anregungen fanden sich vielleicht in diesem Kapitel – welches keine Reise und keine Expedition