Auf dem Weg zur digitalen Gesellschaft. Hepp Andreas
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1.2TRADITIONEN UND PERSPEKTIVEN
Mit meinem Fokus auf tiefgreifende Mediatisierung positioniere ich dieses Buch innerhalb einer bestimmten Perspektive. Grundlegend lassen sich in der Mediatisierungsforschung zwei Denkrichtungen unterscheiden, nämlich die institutionalistische und die sozial-konstruktivistische Tradition.8
Die institutionalistische Tradition ist aus der Massenkommunikations- und Journalismusforschung hervorgegangen. Die Forschung in dieser Tradition konzentriert sich auf den Einfluss von Medien – verstanden als »semi-unabhängige Institution« (HJARVARD 2013: 21) – auf andere, scheinbar unabhängige Bereiche von Kultur und Gesellschaft. Zentral dafür ist die Idee der ›Medienlogik‹. Von David Altheide und Robert Snow (1979) entwickelt, beschrieb das Konzept der Medienlogik ursprünglich den Einfluss bestimmter massenmedialer Formate, insbesondere des Fernsehens: die ›Eigenlogik‹ der Medien bei der Verarbeitung und Darstellung von Inhalten, die – so die Annahme – zunehmend andere Bereich der Gesellschaft wie Politik oder Religion dominiere. In jüngerer Zeit wird das Konzept aber breiter verstanden. Es wird von Medienlogiken im Plural gesprochen, um damit sehr unterschiedliche medienbezogene Dynamiken zu beschreiben (STRÖMBÄCK/ESSER 2014a; 2018). Der Begriff der Medienlogiken fungiert so zunehmend als »eine Metapher bzw. Abkürzung für die verschiedenen modi operandi, die die Funktionsweise der Medien ausmachen« (HJARVARD 2017: 11). Solche Verständnisse von Medienlogiken betreffen den Einfluss medialer Formen (Genres, Rahmungen etc. im Hinblick auf Medieninhalte), den Einfluss organisatorischer Regeln (Arbeitsroutinen, Entscheidungsfindung etc. von Medien als Organisationen) und den Einfluss der technologischen Affordanzen von Medien (die materiellen Eigenschaften von Medien als Endgeräte, Plattformen etc.). Bei all dem wird davon ausgegangen, dass die Logiken von Medien auf gegenläufige Logiken anderer Gesellschaftsbereiche treffen: Nicht-mediale Institutionen (in den Bereichen Politik, Religion etc.) hätten ebenfalls ihre ›Eigenlogiken‹, die wiederum das Potenzial haben, sich gegen die Logiken der Medien zu positionieren, was zu einer gewissen Trägheit und Widerstand in einer sich verändernden Medienumgebung führen kann.
Die sozial-konstruktivistische Tradition hat ihre Ursprünge in der Forschung zu Medienpraktiken – also zum Handeln von Menschen mit Medien –, sowohl im Hinblick auf Mediennutzung als auch hinsichtlich der Medienproduktion. Sie betont die Rolle von Medien bei der kommunikativen Konstruktion sozialer und kultureller Wirklichkeit und erforscht Mediatisierung vor allem aus der Perspektive der Alltagswelt (KNOBLAUCH 2013; KROTZ 2014). Forscher:innen in dieser Tradition untersuchen, wie sich soziale Praktiken verändern, wenn sie mit Medien verschränkt werden. Hier wird eine andere Art der Theoretisierung des Medieneinflusses greifbar, die über die Idee der Medienlogik und die direkten Konsequenzen der Materialität von Medien hinausgeht. Medieneinfluss wird als »Institutionalisierung« und »Materialisierung« von sozialen Praktiken verstanden (COULDRY/HEPP 2017: 32). In Bezug auf einzelne Medien bezieht sich die Institutionalisierung auf eine Stabilisierung der Kommunikationsmuster und der damit verbundenen Erwartungen: Wir wissen, wie ein bestimmtes Medium – z.B. Telefon, E-Mail, Fernsehen – typischerweise für die Kommunikation genutzt wird, wir kommunizieren mithilfe dieses Mediums auf diese Weise und erwarten, dass andere das Gleiche tun. Damit geht eine Materialisierung einher, das heißt, dass solche Muster selbst den Medientechnologien und den ihnen zugrunde liegenden (digitalen) Infrastrukturen eingeschrieben sind. Messenger-Software z. B. materialisiert eine bestimmte Art des ›Sprechens‹ durch ihre softwarebasierte Benutzeroberfläche. Institutionalisierung und Materialisierung sind jedoch keine Einbahnstraße. Die für die verschiedenen sozialen Domänen (Gemeinschaften, Organisationen etc.) konstitutiven Alltagspraktiken haben eine eigene Handlungsorientierung, die durch mediale Institutionalisierungs- und Materialisierungsprozesse stabilisiert oder durch sie herausgefordert werden kann. Wir können hier die Familie oder die Schule als Beispiel nehmen: Viele ihrer konstitutiven Praktiken werden heute auch mittels digitaler Medien realisiert und auf diese Weise stabilisiert. Wir können an die bestehende Praxis des Anlegens von Familienalben denken, die in der Programmierung von entsprechender Fotosoftware aufgegriffen wird, oder an digitalisierte Schulverwaltungssysteme, die die Organisationsstruktur der Schule abbilden. Gleichzeitig werden die konstitutiven Praktiken von Familie und Schule durch digitale Medien aber auch herausgefordert, wenn die direkte familiäre Kommunikation am Esstisch mit der parallelen Kommunikation der Kinder über ihre Smartphones konfrontiert wird oder wenn sich die organisatorische Kommunikation der Schule auf Messengerdienste verlagert, die sich der Kontrolle der Schulleitung entziehen. In der sozial-konstruktivistischen Tradition der Mediatisierungsforschung geht es darum, die Dynamik dieser sich verändernden Bedingungen sozialer Konstruktion zu rekonstruieren, ohne von vornherein bestimmte Logiken zu unterstellen.
Vielleicht erleben wir gerade eine Annäherung dieser beiden Traditionen und ihrer Perspektiven. Diese Annäherung könnte ihre Ursache in den jüngsten Veränderungen der Medientechnologien haben, die Implikationen für beide Traditionen haben: Da digitale Medien verschiedene Domänen der Gesellschaft durchdringen und eng mit deren Praktiken verschränkt sind, ist es heute schwierig anzunehmen, dass Medien die ›semi-unabhängige Institution‹ bleiben, als die sie in der institutionalistischen Tradition betrachtet werden. Digitale Medien sind mit den Praktiken, die Institutionen konstituieren, so verschränkt, dass es kaum möglich ist, Medienlogiken und institutionelle Logiken einander gegenüberzustellen. Gleichzeitig müssen wir aber bedenken, dass die Untersuchung digitaler Medien nicht einfach bedeutet, dass wir Alltagspraktiken und die kommunikative Konstruktion der Gesellschaft nur auf der Ebene der Mediennutzung erforschen können, sondern wir sollten auch die Rolle berücksichtigen, die große Konzerne wie Alphabet, Amazon, Apple, Facebook und Microsoft und die von ihnen (und anderen) aufgebauten Infrastrukturen spielen. An dieser Stelle müssen die ursprünglichen sozial-konstruktivistischen Argumente erweitert werden, indem unter anderem stärker die Rolle der Organisation beim ›Zustandekommen‹ der tiefgreifenden Mediatisierung berücksichtigt wird.
Generell wäre es irreführend, den Begriff der Mediatisierung in einer oder beiden Traditionen mit einer geschlossenen Theorie des Medienwandels gleichzusetzen. An dieser Stelle ist es hilfreich, sich noch einmal das Argument ins Gedächtnis zu rufen, dass Mediatisierung ein ›sensibilisierender Begriff‹ ist, der unseren Blick für einen wichtigen Aspekt des aktuellen gesellschaftlichen Wandels schärft. Mit dieser sensibilisierenden Eigenschaft kann der Begriff für sich allein keine eigenständige Theorie bilden, sondern eine andere Sichtweise ist hilfreicher: Mediatisierung ist ein sensibilisierender Begriff, um den sich verschiedene Wissenschaftler:innen versammelt haben, die an einer empirisch fundierten Untersuchung der Bedeutung von Medien und Kommunikation für den Wandel von Kultur und Gesellschaft interessiert sind. Gemeinsam ist diesen Wissenschaftler:innen, dass sie nach Ansätzen suchen, die über einfache Wirkungsmodelle hinausgehen, und versuchen, den aktuellen Wandel in einer längerfristigen, historischen Perspektive sowie medienübergreifend zu beschreiben.9 Aus dieser Sicht verweist der Begriff ›Mediatisierung‹ auf einen offenen, kontinuierlichen Diskurs der Theoretisierung von sozialem und kulturellem Wandel in Bezug auf Medien und Kommunikation.
Innerhalb dieses Diskurses nimmt dieses Buch eine Position ein, die Nick Couldry und ich an anderer Stelle als »materialistische Phänomenologie« (COULDRY/HEPP 2017: 5-8) beschrieben haben. Wie Raymond Williams (1990) mit seiner Idee des ›kulturellen Materialismus‹, betonen wir, dass es für jede Analyse von Medien und Kommunikation grundlegend ist, sowohl das Materielle als auch das Symbolische zu berücksichtigen. In Zeiten tiefgreifender Mediatisierung ist die Berücksichtigung beider wahrscheinlich noch dringlicher, als dies bereits beim Fernsehen der Fall war, auf das sich Williams in seinem Werk bezog: Die ›Materialität‹ der heutigen Medien betrifft nicht nur die verschiedenen Endgeräte, Kabelnetze und Satelliten. Wie ich bereits oben betont habe, ist es, da die heutigen Medien weitgehend softwarebasiert sind, wichtig zu bedenken, dass komplexe Aufgaben an Algorithmen ›ausgelagert‹ werden können und in einer zunehmenden Zahl von Fällen auch werden. Es ist daher notwendig, viel