Auf dem Weg zur digitalen Gesellschaft. Hepp Andreas
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Trotz der wichtigen Rolle, die Daten und Algorithmen spielen, sind aber Fragen der menschlichen Bedeutung und Sinngebung immer noch ein zentrales Thema für jede Analyse der sozialen Konstruktion. Finanzprodukte, die einen beträchtlichen Teil der an den heutigen globalisierten Börsen gehandelten Produkte ausmachen, basieren beispielsweise oft vollständig auf automatisiert verarbeiteten Daten und sind ohne eine visuelle, computergestützte Repräsentation derselben nicht greifbar.10 Aber die verarbeiteten Daten erhalten erst durch die menschliche Zuschreibung von Bedeutung eine Wertigkeit als Finanzprodukt. Aus diesem Grund ist es wichtig, das Symbolische nicht aus den Augen zu verlieren: die soziale Konstruktion der Wirklichkeit bleibt auch in Zeiten tiefgreifender Mediatisierung ein Prozess der Zuschreibung von Bedeutung. Der Ansatz der materialistischen Phänomenologie zielt darauf ab zu verstehen, dass die soziale Welt, so komplex und undurchsichtig sie auch erscheinen mag, der Interpretation und des Verständnisses durch menschliche Akteure bedarf. In der Tat ist sie eine Struktur, die zum Teil erst durch diese Interpretationen und Verstehensweisen aufgebaut wird.
Ein zentrales Anliegen der materialistischen Phänomenologie sind deswegen die jeweils beteiligten Akteur:innen, seien es Individuen oder überindividuelle Akteure wie Unternehmen und Kollektive.11 Um diesem Anliegen Rechnung zu tragen, wird in diesem Buch die Mediatisierung aus einer Akteursperspektive untersucht: Mediatisierung ist kein Prozess, der einfach ›passiert‹. Obwohl dieser Prozess eine Vielzahl von Technologien und einige der komplexesten Infrastrukturen der Geschichte umfasst, bleibt er einer, der von Menschen gemacht ist, die ihm Bedeutung verleihen: individuelle Akteur:innen als einzelne Menschen, korporative Akteure als Organisationen, Unternehmen und staatliche Behörden sowie kollektive Akteure als Gemeinschaften oder soziale Bewegungen. Eine Akteursperspektive auf tiefgreifende Mediatisierung einzunehmen bedeutet, zu versuchen, ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie der Prozess der Mediatisierung in der Überschneidung der Interessen und Praktiken einer großen Zahl sehr unterschiedlicher Akteure stattfindet.
Die heutige Mediatisierung ist in ihrem tiefgreifenden Charakter durch das Ausmaß gekennzeichnet, mit dem die Praktiken dieser verschiedenen Akteur:innen mit digitalen Medien und deren Infrastrukturen verschränkt sind.12 Da Medien die verschiedenen Domänen der Gesellschaft durchdringen, sind sie Teil der Praktiken geworden, durch die diese sozialen Domänen konstruiert werden. Praktiken, die in der Vergangenheit vielleicht nicht als medienbezogen betrachtet wurden, werden zu Medienpraktiken.13 Im Büro und im Labor, in der Schule und an der Universität, mit der Familie oder unter Freund:innen: Unsere aktuellen Praktiken sind dadurch gekennzeichnet, dass wir sie auch mit und durch Medien realisieren. Damit wird die besondere Situation der tiefgreifenden Mediatisierung deutlich, die die digitale Gesellschaft entstehen lässt, nämlich dass Praktiken des physischen Handelns – Handarbeit, Putzen, Autofahren, Kochen und so weiter – zunehmend eng mit Praktiken der Kommunikation verwoben sind und dass digitale Medien dabei eine zunehmende Rolle spielen. Wenn wir Dinge gemeinsam tun, koordinieren wir unsere Handlungen und orientieren unser Wissen durch Kommunikation, und wir projizieren unsere Ziele durch kommunikative Mittel (REICHERTZ 2009: 118-220). Diese Kommunikation ist heute eine Kommunikation, die auch durch digitale Medien vermittelt geschieht. Mit der Verschränkung allgemeiner sozialer Praktiken mit digitalen Medien verschwimmt die Trennung zwischen kommunikativem Handeln und physischem Handeln weiter. Ein gutes Beispiel dafür ist die automatisierte Selbstvermessung von Laufen, Radfahren und Schlafen mithilfe von Smartwatches: Es geht um körperliche Tätigkeiten, die für uns eine ganz neue Bedeutung bekommen können, wenn wir sie mit Medien verschränken – nicht nur Medien des Sammelns von Daten über diese Tätigkeiten, sondern auch Medien wie Facebook und Instagram, mittels derer wir anderen fortlaufend kommunizieren, was wir gerade getan haben. Die analytisch interessantere Frage ist damit die, wie sich physisches und kommunikatives Handeln aufeinander beziehen – wie physische Praktiken auch zu medialen Praktiken werden.
Wenn wir bei unserer Analyse des Entstehens der digitalen Gesellschaft den Weg der materialistischen Phänomenologie beschreiten, können wir die tiefgreifende Mediatisierung als einen Prozess rekursiver Transformation verstehen (COULDRY/HEPP 2017: 216-218). ›Rekursivität‹ ist ein Begriff, dessen Ursprünge in der Logik und Informatik liegen. Er bedeutet, dass Regeln auf die Entität, die sie generiert hat, erneut angewandt werden (KELTY 2008). Dies ist ein generelles Moment des Sozialen: Wir erhalten eine soziale Entität wie beispielsweise eine Gruppe aufrecht und nehmen notwendige Anpassungen vor, indem wir entlang der Regeln und Normen, auf denen sie basiert, erneut handeln, wenn Probleme auftreten, gegebenenfalls mit einer gewissen Variation.14 Bei der tiefgreifenden Mediatisierung sind wir allerdings mit einer gesteigerten Rekursivität konfrontiert: Da viele heutige Praktiken digitale Medien einbeziehen, die auf Software und den damit verbundenen Algorithmen basieren und fortlaufend Daten generieren, potenziert sich Rekursivität:15 Selbst scheinbar einfache Handlungen, die von sozialen Akteur:innen ausgeführt werden, gestatten als Quelle von Daten das Erschließen möglicherweise versteckter, unsichtbarer oder gar nur unterstellter Regelhaftigkeiten, die dann die Basis weiterer Verarbeitungsschleifen und Datenrepräsentationen werden.16 Ein Beispiel dafür sind die verschiedenen Online-Stores, deren Plattformen fortlaufend automatisiert anhand des Kaufverhaltens von Kund:innen auf ›Regelhaftigkeiten‹ schließen, die dann u.a. als Kaufempfehlungen präsentiert werden, was wiederum mögliche Kaufentscheidungen anderer Kund:innen nach sich zieht, wodurch die computerisierten Annahmen der Regelhaftigkeit ggf. erst zur sozialen Regel werden. Die Transformation der Gesellschaft wird nicht nur zu einer tiefgreifend rekursiven, sondern bezieht in diesen Prozess auch Imaginationen mit ein: Imaginationen davon, wie sich etwas verändern sollte, werden als Regelsetzungen in Datenverarbeitungsalgorithmen eingeschrieben, die auf die sozialen Phänomene, über die sie Daten sammeln, angewendet werden und durch diese rekursiven Schleifen selbst ein einflussreicher Faktor bei der Transformation sozialer Phänomene sein können. Vermittelt durch digitale Medien und deren Infrastrukturen werden die Imaginationen der Regelhaftigkeit zur sozialen Regel selbst.
1.3DIE KAPITEL DIESES BUCHES
Es sind die bisher umrissenen Überlegungen, ausgehend von denen ich in diesem Buch eine Annäherung an die entstehende digitale Gesellschaft wagen möchte. Während dieses einleitende Kapitel eine erste Darstellung des Konzepts der tiefgreifenden Mediatisierung geleistet und es innerhalb der weiteren Mediatisierungsforschung verortet hat, zielen die folgenden Kapitel darauf ab, die soziale und technologische Formierung der tiefgreifenden Mediatisierung genauer herauszuarbeiten sowie empirisch zu erfassen.
Das Kapitel 2 mit dem Titel Das Zustandekommen der tiefgreifenden Mediatisierung beginnt mit einer akteurszentrierten Perspektive auf diesen Prozess und diskutiert dessen Entwicklungsgeschichte. Dabei befasse ich mich sowohl mit korporativen Akteuren (Technologiekonzernen und Regierungen) als auch mit kollektiven Akteuren (den verschiedenen Pioniergemeinschaften, die die medientechnologische Entwicklung imaginiert und befördert haben). Mein Hauptanliegen ist es zu zeigen, dass das ›Zustandekommen‹ der tiefgreifenden Mediatisierung nicht allein auf die Aktivitäten großer Unternehmen und Regierungen reduziert werden kann, wie es oft im Ansatz der Politischen Ökonomie der Medien gemacht wird. Wir haben es vielmehr mit einem rekursiven Zusammenspiel von korporativen und kollektiven Akteuren zu tun und können die Entstehung der tiefgreifenden Mediatisierung nur begreifen, wenn wir diese Dynamik kennen. In ihrem gegenwärtigen Stadium führte diese Dynamik zu fünf quantitativen Trends des Wandels der Medienumgebung: die Ausdifferenzierung einer Vielzahl von medialen Endgeräten, deren zunehmende Konnektivität durch das Internet, die steigende Omnipräsenz dieser