Zwischen Expertise und Führung (E-Book). Группа авторов
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In Expert*innenorganisationen stehen inhaltlich orientierte Aufgaben in einem Spannungsverhältnis zu Verwaltung und Management. Beide Kulturen benötigen unterschiedliche (Führungs-)Konzepte. Eine solche Spannung ist nicht einfach auflösbar, kann aber durchaus produktiv genutzt werden.
Zudem lassen die Anforderungen an eine zunehmende Spezialisierung aufseiten der Expert*innen oft Organisationsstrukturen entstehen, die nach fachlichen Profilen aufgebaut sind. Dies führt wiederum zu einem wachsenden Integrationsbedarf auf der Ebene der Gesamtorganisation. Die notwendige Verknüpfung von hoch autonomen Einheiten ist anspruchsvoll.
Einerseits sollen sich gerade staatliche Expert*innenorganisationen zunehmend kostenbewusst oder sogar unternehmerisch verhalten. Andererseits kann das Spannungsfeld zwischen den Steuerungsebenen (staatliche Geldgeber, strategische Führung und operative Führung) eine Paradoxie erzeugen: Die Forderung nach unternehmerischem Handeln wird andauernd durch bürokratische Vorgaben unterlaufen.
2. Führungshandeln als «covert leadership»
Für die Leitung von Expert*innenorganisationen benötigen Führungspersonen nach Mintzberg (1998, S. 140–147) spezifische Fähigkeiten, die unter dem Begriff «covert leadership» zusammenfasst werden (vgl. auch Kels & Kaudela-Baum, 2019a, S. 444f.). Mit Covert Leadership ist ein Verständnis von Führung gemeint, das im konkreten Prozess der Zusammenarbeit auf der Basis von Vertrauen, Beziehungsorientierung und Respekt aus dem Hintergrund Einfluss nimmt. Ähnliche Führungsansätze repräsentieren die «leise Führung» (Badaracco, 2002) und die «dienende Führung» (Greenleaf, 2002).
In den letzten Jahren zeigte sich in Expert*innenorganisationen zunehmend ein neues Führungsverständnis, das auf dem Covert-Leadership-Gedanken aufbaut. Als Beispiel sei hier die laterale Führung genannt (vgl. Thomann & Zellweger, 2016; Zellweger & Thomann, 2019). Dieses Modell beruht auf flacheren und flexibleren Strukturen und der Zunahme von «hybrid professionals» (Kels & Kaudela-Baum, 2019b, S. 21), die ihre Expertise «quer», transdisziplinär und projektbezogen aufbauen. Dies bedeutet: Lateral Führende verfügen über keine formalen Weisungsbefugnisse und über keine disziplinarischen oder andere direkten Sanktionsmöglichkeiten. Die Geführten sind nicht zwingend aus derselben Organisationseinheit und bewegen sich oft auf unterschiedlichen hierarchischen Ebenen.
Damit wird das Verständnis von Führung als ein Handeln von Personen in formalen Führungsfunktionen brüchig. Gronn (2003) oder Spillane (2006) verweisen darauf, dass Führung als ein Zusammenspiel verschiedener Personen auf unterschiedlichen organisationalen Ebenen verstanden werden muss. Insbesondere Untersuchungen zu Führung in Bildungsorganisationen zeigen, dass dort auch Personen ohne formale Funktion Führung übernehmen (Harris, 2004; MacBeath, Oduro, & Waterhouse, 2004) und Führung geteilt beziehungsweise verteilt wird. Nicht die heroische Führungsperson, sondern das Zusammenspiel verschiedener Personen steht im Fokus. Oder wie es Spillane formuliert: «A distributed perspective moves beyond the Superman and Wonderwoman view of school leadership» (Spillane, 2006). Mit dem Begriff «distributed leadership» wird ein Verständnis von Führung postuliert, welches das Paradigma der «great man theory» hinter sich lässt und Führung als etwas Gemeinschaftliches betrachtet. Spillane spricht dann auch von Führung als einer Praxis, die sich im Dreieck der führenden und geführten Personen in konkreten Situationen vollzieht. Dabei kommen dem Raum und der Zeit als formenden Elementen eine wesentliche Rolle zu. So bildet sich beispielsweise Vertrauen als ein wesentliches Element von Führung erst mit zunehmender Dauer und den entsprechenden Erfahrungen der Führungsbeziehung. Führungshandeln zeigt sich vor allem in der Interaktion zwischen den Personen und wird dadurch zu etwas Relationalem (Uhl-Bien, Maslyn, & Ospina, 2012). Die Führungsperson ist existenziell von den geführten Personen abhängig: Lassen sich diese nicht führen, ist Führung nicht möglich. Dieser Umstand ist gerade in Expert*innenorganisationen mit flachen Hierarchien und einer hohen Autonomie der Organisationsmitglieder besonders zentral. Sind Expert*innen von einer – insbesondere fachlichen – Anweisung nicht überzeugt, so werden sie wie schon weiter oben beschrieben Wege finden, diese zu umgehen.
Unabhängig vom Diskurs über Führung sind zwei Punkte dafür immer relevant: Erstens wird Führung als etwas «Verteiltes» oder «Geteiltes» verstanden (Anderegg, 2020; Hallinger, 2009; Johnson & Dempster, 2016; Pashiardis & Johansson, 2016), zweitens muss Konsens über den Zweck und das Ziel einer Organisation bestehen. Führung als zielbezogene Einflussnahme (von Rosenstiel, 2009) wird umso wirkungsvoller, je klarer die verschiedenen Organisationsmitglieder sich gegenseitig in eine ähnliche Richtung beeinflussen. Gleichzeitig bestehen insbesondere in Expert*innenorganisationen unterschiedliche Bedürfnisse der Mitarbeitenden: Ansprüche, Widersprüche und Paradoxien sind Bestandteil von Führung.
Eine «paradoxiesensible Führung» (Kels & Kaudela-Baum, 2019a, S. 433) muss somit in Expert*innenorganisationen den Widerspruch zwischen dem Fachsystem der Profession und dem sozialen System der Organisation auflösen. Gleichzeitig muss damit in der Führung ein Spagat bewältigt werden: Einerseits ist die Professionalität und Leistungsbereitschaft der Expert*innen zu entwickeln und ihnen eine möglichst weitgehende Autonomie zu lassen, andererseits sind sie in die übergeordneten Zielsetzungen der Organisation einzubinden (Kraus, 2021). Diese Herausforderung potenziert sich sozusagen in Krisensituationen wie der Covid-19-Krise. Organisationen müssen «beidhändig» zum einen das Bestehende nutzen, um Neues zu bewältigen, und zum anderen sollten sie gleichzeitig innovativ und effizient sein. O’Reilly und Tushman nennen das «organisationale Ambidextrie» (O’Reilly & Tushman, 2008; vgl. auch Raisch, Birkinshaw, & Probst, 2009).
3. Führung und Expertise – ein Spannungsfeld
Das Spannungsfeld zwischen Führung und Expertise kann nicht aufgelöst werden, es kann lediglich ein für die Institution und seine Ziele förderlicher Umgang damit gefunden werden. Für die Führungspersonen – aber auch für die Expert*innen – können sich dabei unter anderem folgende Fragen stellen:
Inwiefern müssen Führungskräfte zu ihrer Legitimation über einen Berufsfeldbezug verfügen? Wie führt man Expert*innen ohne eigene Expertise im selben Fachbereich?
Wie wird Führungsexpertise im Vergleich zu inhaltlicher Expertise oder fachlicher Erfahrung gewichtet und bewertet? Wie hoch ist der Status von Führung in Expert*innenorganisationen? Wie viel inhaltliche Erfahrung oder aktuelles Fachwissen brauchen Führungskräfte, um erfolgreich führen zu können?
Inwieweit können Führungskompetenzen Fachkompetenzen ersetzen oder kompensieren? Wird Führungskompetenz als Expertise anerkannt?
Inwieweit trifft die Hypothese der (latenten) Konkurrenz zwischen Führungspersonen und Expert*innen zu? Was bedeutet das für das Führungshandeln?
Wie ist die Sicht der Geführten «im Sandwich» zwischen Fachexpertise und Management? Handelt es sich dabei um ein Spannungsfeld?
Wie lässt sich autonomes Handeln von Expert*innen steuern? Wie reagieren Expert*innen darauf?
Wie reagieren Expert*innenorganisationen und ihre Führungskräfte auf Krisen? Wie bewältigen sie diese?
4. Lernen von Geschichten: Das Konzept der Kaminfeuergespräche
Die Idee und die inhaltliche Orientierung der vorliegenden Publikation basieren auf vier Veranstaltungen der «Kaminfeuergespräche für Führungskräfte auf Schloss Au», die zwischen 2017 und 2020 stattgefunden haben. Die Tagungsreihe wird auch nach dieser Publikation fortgesetzt. Die Pädagogische Hochschule Zürich lädt