AktenEinsicht. Christina Clemm

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу AktenEinsicht - Christina Clemm страница 3

Автор:
Серия:
Издательство:
AktenEinsicht - Christina Clemm

Скачать книгу

Wohnung, sie hat große Angst.

      Ihr Handy hat sie noch während ihrer Flucht weggeschmissen, nachdem sie eine letzte Nachricht an Kevin gesandt hatte: »Wenn du mir folgst, zeige ich dich an. Lass mich in Ruhe, dann wird nichts geschehen.«

      Sie sucht keinen Kontakt zu ihren Eltern.

      Nach ein paar Wochen bringt Anke sie nach Rostock. Dort hat sie Bekannte, bei denen Claudia S. erst einmal im Gartenhaus leben kann. Sie wissen nur, dass Claudia S. ein Problem mit ihren Eltern hat und nicht gefunden werden möchte. Sie spricht kaum, liegt tagelang im Bett. Langsam, ganz langsam wagt sie es, mit Cheri den Garten zu verlassen und mit ihr spazieren zu gehen.

      Anke hat ihr etwas Geld geliehen. Aber bald geht es zur Neige. Claudia S. weiß nicht, wovon sie leben soll. Polizeilich anmelden kann sie sich unter keinen Umständen, das würde Kevin herausfinden. In einem Supermarkt arbeiten wäre auch viel zu öffentlich, dann würde sie immer nur angstvoll alle Käufer beäugen. Wochenlang denkt sie darüber nach und stöbert im Internet.

      Dann findet sie die Anzeige eines Studios, das Dominas sucht. Von Diskretion ist dort die Rede und »ausgewählter Kundschaft«. Spontan meldet sie sich dort und erhält einen Vorstellungstermin. Es ist anders, als sie erwartet hatte. Eine große, kräftige, dunkelhaarige Mittfünfzigerin öffnet ihr. Nie hätte sie sie für eine Prostituierte gehalten, eher Typ Unternehmensberaterin.

      Sie ist eine verantwortungsvolle Chefin, der gute Arbeitsbedingungen für die Frauen wichtig sind. Nur ausgewählte Kunden – »oberes Segment«. Es gibt sogar Supervision für die Frauen und gute Bezahlung.

      Genau der richtige Ort für Claudia S. Es dauert nicht lang, bis sie ihrer Chefin von Kevin erzählt. Die ist nicht verwundert. Sie freunden sich an und verbringen viel Zeit miteinander. Langsam gewinnt Claudia S. ihr Selbstbewusstsein zurück, beginnt wieder zu fühlen und sich wieder zu mögen. Die Wunden heilen nach und nach.

      Eines Tages, als sie sich schon nicht mehr ständig umsieht, passiert es. Kevin steht vor ihr, mitten im Supermarkt.

      Nie wird sie erfahren, wie er sie gefunden hat. Kevin lächelt sie an, kommt auf sie zu. Dann droht er ihr, zischt ihr üble Beschimpfungen zu. Sie schreit – so laut sie kann. Kevin geht langsam, sehr langsam, erst lächelnd, dann lachend hinaus. Er nimmt Cheri mit, die draußen angeleint ist. Claudia S. wagt es nicht, den sicheren Supermarkt zu verlassen, muss tatenlos zusehen, wie er ihr Liebstes nimmt.

      Im Supermarkt hat jemand die Polizei angerufen. Als sie kommen, zeigt sie ihn an. Spontan. Monate nach der Tat. Zunächst wegen Diebstahl des Hundes. Aber die Polizeibeamtin merkt, dass es mehr gibt als den gestohlenen Hund, und Claudia S. ist nicht in der Lage, es zu verschweigen. So erzählt sie von der Vergewaltigung.

      Später wird die Anzeigesituation Anlass zu großem Misstrauen geben. Immer wieder wird im Verfahren behauptet werden, dass sie die Vergewaltigung nur erfunden habe, um den Hund zurückzubekommen. Ihre Glaubhaftigkeit sei schon deshalb eingeschränkt, da sie nicht unmittelbar nach der Tat zur Polizei gegangen sei, denn ein echtes Vergewaltigungsopfer zeige sofort nach der Tat an.

      In Deutschland gab es laut polizeilicher Kriminalstatistik im Jahr 2018 114.393 weibliche Opfer von vollendeten und versuchten Delikten sogenannter Partnerschaftsgewalt.1 Mehr als 3100 Personen wurden Opfer sexueller Übergriffe und sexueller Nötigungen im Rahmen von Beziehungen im sozialen Nahbereich, wovon 92 Prozent weiblich waren.2

      Das hohe Maß an Gewalt belegt auch eine Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte aus dem Jahr 2014, nach der 33 Prozent der befragten Frauen in Europa seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren haben.3

      Die Dunkelfeldforschung geht von einem sehr hohen Dunkelfeld aus, also von zahlreichen Taten, die nicht angezeigt werden. Nach einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) aus dem Jahr 2003 – leider gibt es keine aktuellere Studie – zeigen gerade einmal acht Prozent aller Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, diese bei der Polizei an.4 Dieses Schweigen ist nicht zuletzt der alltäglichen Kultur geschuldet, in der Betroffenen von Vergewaltigung die Schuld zugewiesen wird.

      95 Prozent der Täter*innen sind männlich, 95 Prozent der Opfer weiblich. Nur bei sexuellem Missbrauch an Kindern und Schutzbefohlenen sind die Opfer zu 20 Prozent männlich. Trans- oder Interpersonen werden von der Statistik nicht erfasst. Es ist aber davon auszugehen, dass diese ein noch erheblich höheres Risiko haben, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden.5

      Claudia S. sagt viele Stunden bei der Kriminalpolizei aus. Äußerst kritisch werden ihre Aussagen beleuchtet, immer wieder erlebt sie die Befragung so, als glaube man ihr nicht, als sei sie schuldig und habe das gesamte Geschehen nur erfunden. Jedes Detail der Vergewaltigung berichtet sie, so gut es geht, einiges hatte sie schon verdrängt.

      Sie berichtet nichts über Kevins Geschäfte. Voller Angst und Ekel verlässt sie die Polizeidienststelle und nimmt die abschließend freundlichen Worte des Vernehmungsbeamten kaum noch wahr, der ihr mitteilt, dass man sie einfach so hart habe drannehmen müssen, um die Wahrheit herauszufinden und zu prüfen, ob sie eine spätere Hauptverhandlung durchhalten werde. »Wenn Sie wüssten, was da noch alles auf Sie zukommt – dagegen ist unsere Befragung ein Zuckerschlecken!«

      Ihr wird auch gesagt, dass das Verfahren in Berlin geführt werden wird und sie gut beraten sei, sich möglichst rasch eine Anwältin in Berlin zu suchen.

      Offenbar hatte man ihrer Aussage Glauben geschenkt, die Akte aus Rostock sofort an die Staatsanwaltschaft Berlin weitergeleitet, die einen Haftbefehl beantragt und erhalten hat. Sicherlich spielte dabei auch eine Rolle, dass Kevin für die Ermittlungsbehörden kein unbeschriebenes Blatt ist.

      Als Kevin zwei Tage nach der ersten Aussage von Claudia S. festgenommen wurde, haben die Polizisten Cheri mitgenommen und ihr mitgeteilt, dass sie sie abholen könne.

      Claudia S. beschließt deshalb, sofort nach Berlin zurückzukehren, und schlüpft wieder bei Anke unter. In Rostock fühlt sie sich sowieso nicht mehr sicher. Die Angst ist wieder da, fast wie am ersten Tag.

      Als sie zehn Tage später bei der Anwältin am Besprechungstisch sitzt, will sie eigentlich nur eins: ihre Anzeige zurücknehmen.

      Sie sitzt da in ihrem kleinen Pelzjäckchen, hat Cheri auf dem Schoß, spricht leise, viel zu schnell, nervös. Wenn es bei der Anwältin klingelt, zuckt sie zusammen. »Die werden mich finden und fertigmachen. Ich werde nichts sagen über die Drogen, nichts über die ganzen Verbindungen. Aber das wissen die ja nicht. Es ist ein absolutes Tabu, man wendet sich einfach nicht an die Bullen, nie, unter keinen Umständen. Wie konnte ich nur so blöd sein!«

      Aber sie kann die Anzeige nicht einfach zurücknehmen.

      Eine Vergewaltigung ist ein Offizialdelikt. Wenn eine sexuelle Nötigung mit Gewalt oder besonders erniedrigend erfolgt, was etwa bei dem Eindringen in eine Körperöffnung der Fall ist, ist sie mit einer Mindeststrafe von ein bis zwei Jahren belegt, wenn sie sogar konkret lebensbedrohlich war, mit einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren. Bei solch schweren Straftaten liegt es nicht in der Hand der Betroffenen, zu entscheiden, ob das Verfahren durchgeführt wird oder nicht. Sobald die Ermittlungsbehörden von einer solchen Straftat hören, müssen sie ermitteln, unabhängig von dem Wunsch der Betroffenen. Diese sind verpflichtet auszusagen, selbst wenn sie dies aus welchen Gründen auch immer nicht möchten. Es gilt den staatlichen Strafanspruch zu erfüllen, nicht das Interesse der Einzelnen. Dabei wissen viele Betroffene, dass gerade bei Sexualdelikten oder bei Delikten im häuslichen oder sonstigen Nahbereich die Verfahren äußerst belastend sind, ihnen massives Misstrauen begegnet und sie retraumatisiert werden können. Viele Opferhilfeorganisationen

Скачать книгу