AktenEinsicht. Christina Clemm

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AktenEinsicht - Christina Clemm

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zu kurze Rock, das zu laszive oder wahlweise zu frivole Verhalten, die Ambivalenz, der Drogenkonsum, die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit von dem Täter – immer wieder werden Begründungen gesucht und gefunden, um die Schwere der Taten zu relativieren. So etwa, dass zugunsten eines Beschuldigten das Vorverhalten der Geschädigten spräche, die in der vorangegangenen Nacht auf den Beschuldigten, »den sie erst unmittelbar zuvor kennen gelernt hatte, offensiv und auch mit ihren körperlichen Attributen kokettierend zugegangen war und mit ihm einverständlich den Geschlechtsverkehr ausgeführt habe«15.

      Kevin wird wegen eines minder schweren Falls der sexuellen Nötigung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Am Tag der Urteilsverkündung kommt er frei.

      Claudia S. hört sich das Urteil an, auch die Anordnung, dass Kevin sofort aus der Haft zu entlassen ist. Erschrocken sieht sie sich im Gerichtssaal um und verlässt noch während der mündlichen Urteilsverkündung mit ihrer Anwältin eilig das Gebäude durch einen Hintereingang und rennt dann weg. Danach ist sie verschwunden. Sie ist nicht mehr erreichbar, nicht für ihre Anwältin, nicht für die Polizei, nicht für die Familie, nicht einmal für ihre beste Freundin Anke. Erst nach einer Woche erhält Anke ein Lebenszeichen und die Anweisung, dass sie und die Anwältin sie nicht suchen sollen.

      Manchmal kommt es dazu, dass Mandant*innen viele Jahre später wieder am Tisch der Anwältin sitzen. Meist geht es dann um etwas vollkommen anderes, manchmal um Scheidungen, manchmal um Verkehrsunfälle, um neue Straftaten, die an ihnen begangen wurden, oder um Straftaten, die ihnen vorgeworfen werden.

      Und so sind acht Jahre vergangen, bis Claudia S. erneut bei der Anwältin am Tisch sitzt und diese erfährt, wie es nach dem Urteil für Kevin weiterging. Damals verließ Claudia S. fluchtartig das Land, jobbte im Ausland wieder als Domina. Sie verdiente gut. Ein paar Jahre machte sie das, bis eine Freundin sie überredete, zu studieren. Sie beschaffte sich die notwendigen Papiere durch ihre Eltern, bekam im Ausland einen Studienplatz und jobbte weiter nebenbei in einem Salon. Nach ein paar Jahren und mit einem Master in Psychologie kehrte sie zurück nach Berlin. Sie hat mit ihrer Therapieausbildung begonnen, ist aktiv in einer Frauengruppe, lebt in einem Haus am Stadtrand.

      Der Anwältin legt Claudia S. beim Wiedersehen eine »Vorladung zur Beschuldigtenvernehmung« auf den Tisch. Der Vorwurf: Schwerer Hausfriedensbruch unter anderem. Dazu soll sie angehört werden.

      Die Anwältin rät ihr, der Vorladung nicht zu folgen und zunächst die Akteneinsicht abzuwarten. Als die Anwältin die Akteneinsicht von der Staatsanwaltschaft bekommt, ergibt sich folgendes Bild:

      Dem Polizeibericht ist zu entnehmen, dass circa fünfzig Frauen zwischen 20 und 35 Jahren Einlass zu einer Veranstaltung erhalten hätten, da sie sich als Veranstaltungsteilnehmerinnen ausgegeben hatten. Tatsächlich aber seien sie nur in den Veranstaltungssaal gelangt, um ihrem Unmut über das Thema Ausdruck zu verleihen und die Veranstaltung zu stören. Die herbeigerufenen Einsatzkräfte hätten deshalb auf Aufforderung des Veranstaltungsleiters den Saal geräumt, wobei es während der Räumung zu tumultartigen Situationen gekommen sei und sich einige der Frauen vollständig der Oberbekleidung entledigt hätten. Die Einsatzlage habe deshalb nur eine Räumung, nicht aber die Festnahme der störenden Personengruppe zugelassen.

      Bereits vor Ort seien einige reguläre Veranstaltungsteilnehmende befragt worden. Mehrere äußerst entrüstete Zeugen und Zeuginnen, zumeist Damen und Herren zwischen 55 und 75 Jahren, wohlsituiert, aus akademischen Kreisen, hatten im Ermittlungsverfahren ausgesagt, dass sie einen Vortrag organisiert hätten. Dort habe ein Jurist, ein Richter am Oberverwaltungsgericht, über Lebensschutz unter rechtlichen und moralischen Gesichtspunkten und dem verfassungsrechtlichen Gebot, das Leben von Anfang an zu schützen, sprechen sollen. Erst habe man sich gefreut, dass viele junge Frauen zu der Veranstaltung gekommen seien, gerade sie ginge es ja etwas an. Denn letztlich seien es die jungen Frauen, die die größte Bedrohung für das Ungeborene darstellten. Aber dann, der Hauptredner habe gerade mit seinem Vortrag beginnen wollen, hätten sie auf das Kommando der Rädelsführerin hin plötzlich herumgeschrien. Sie hätten mit faulen Eiern geworfen, wüst gewütet und letztlich sogar die Exponate mit den Embryonen zerstört. »Mit echten, abgetriebenen, ermordeten Babys!« Sehr schnell sei das gegangen.

      Die Rädelsführerin wurde als blond und langhaarig, circa fünfundzwanzig bis dreißig Jahre alt, schlank, circa 1,75 Meter groß und sportlich beschrieben. Sie habe ihre Haare lang und offen getragen und habe keinerlei Auffälligkeiten im Gesicht wie Piercings oder Tätowierungen gezeigt.

      Was sie gemeinsam verschwiegen, die Anwältin aber von Claudia S. erfuhr, war, dass viele der protestierenden Frauen auf ihrem Weg hinaus von den Abtreibungsgegnern massiv angegriffen wurden. Viele trugen Hämatome und Kratzwunden davon, eine Frau war gebissen worden und eine mit der Faust in ihren Bauch geschlagen worden. Die zunächst so bürgerlich wirkenden Personen gerieten angesichts des Protestes von jungen Frauen im gebärfähigen Alter in hysterische Wut.

      Die Bewegung der Abtreibungsgegner*innen ist seit Langem aktiv und in Deutschland und weltweit wieder erstarkt. Sie schließen Bündnisse mit extrem konservativen bis rechtsextremen Organisationen im Namen eines angeblichen Lebensschutzes und sprechen den Schwangeren ihr Recht auf Selbstbestimmung ab.16 Abtreibung ist in Deutschland grundsätzlich verboten und nur unter bestimmten Umständen, nämlich innerhalb einer Frist und nach Beratung straffrei. Sie soll, wenn es nach den selbsternannten Lebensschützer*innen geht, wenn überhaupt nur bei Lebensgefahr für Mutter und Embryo erlaubt sein, ansonsten sei das Lebensrecht des Embryos nicht verhandelbar. Häufig vertreten Abtreibungsgegner-Organisationen rassistische, rechtsextreme oder ultrakonservative Ziele, wenn sie etwa formulieren, dass das demografische Problem durch »mehr deutsche Kinder statt durch Masseneinwanderung« zu lösen sei, oder Abtreibungen mit dem Holocaust vergleichen. Sie halten ein traditionelles Familienbild hoch, in dem der Mann der Ernährer und die Frau Mutter und Hausfrau ist, und wettern gegen den von ihnen sogenannten »Genderwahn«.17 Abtreibungsgegner*innen machen Frauenärzt*innen, die Abtreibungen durchführen, das Leben mit Anzeigen und Klagen schwer, versuchen Kliniken, in denen Abtreibungen vorgenommen werden, Gelder streichen zu lassen. Auch der Papst sprach 2018 davon, dass Abtreibungen wie Auftragsmorde seien, und erklärte damit die Ärzt*innen, die Abtreibungen durchführen, indirekt zu Mörder*innen.18

      In Ecuador sind Abtreibungen selbst dann verboten, wenn die Schwangerschaft aus einer Vergewaltigung herrührt, und nur dann erlaubt, wenn das Leben der Schwangeren ernsthaft gefährdet ist, und in Teilen der USA haben die reaktionären Abtreibungsgegner*innen schon ein faktisches Verbot von Abtreibungen durchgesetzt. In Deutschland haben sie erreicht, dass immer weniger Praxen Abtreibungen durchführen und Ärzt*innen schon allein dafür bestraft werden, wenn sie über den Fakt hinaus, dass sie Abtreibungen durchführen, auch informieren, mit welcher Methode.19 Für ungewollt Schwangere wird es immer schwerer, dass ihre eigene Entscheidung akzeptiert wird und sie eine sichere, medizinisch nach den Regeln der Kunst durchgeführte Abtreibung erhalten können. Dabei ist langläufig bekannt, dass das Verbot von Abtreibungen nicht zu weniger, sondern zu gefährlicheren Abtreibungen führt. Nach Schätzungen der WHO sterben jährlich circa 47.000 Frauen weltweit an den Folgen illegaler Abtreibungen.20

      Die Ermittlungsakte enthielt darüber hinaus den Vermerk über die Einsichtnahme in die sogenannte Lichtbildkartei.

      Sofort fiel der Anwältin auf, dass alle Zeug*innen am gleichen Tag zur Lichtbildvorlage zum Landeskriminalamt bestellt worden waren und dort Fotos angesehen hatten. Offensichtlich waren sie in unmittelbarem Anschluss nacheinander befragt worden und hatten jeweils die gleiche Lichtbildvorlage gezeigt bekommen. Ob sie sich zwischen den jeweiligen Befragungen be- oder absprechen konnten beziehungsweise ob dies gezielt verhindert wurde, ging aus der Akte nicht hervor.

      Die Lichtbildvorlage bestand aus drei Blättern mit jeweils acht Fotos von Frauen zwischen zwanzig und dreißig Jahren. Die Hälfte der abgebildeten Frauen hatte braune oder schwarze Haare. Von den Frauen mit blonden Haaren hatten fünf der Abgebildeten

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