Der energethische Imperativ. Hermann Scheer
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Immerhin: Inzwischen wird allseits anerkannt, dass die Zukunft der Energieversorgung in den erneuerbaren Energien liegen muss. Die vielfältigen Gefahren und Grenzen der Förderung und Produktion fossiler und atomarer Energien sind unübersehbar geworden. Schon deshalb können erneuerbare Energien nicht länger übergangen werden, zumal sie mit beeindruckenden Zuwachsraten aufwarten. Allein zwischen den Jahren 2006 und 2008 haben sich die weltweiten jährlichen Investitionen in erneuerbare Energien von 63 Mrd. auf 120 Mrd. US-Dollar verdoppelt. Die weltweit installierte Kapazität an Windkraftanlagen wuchs zwischen 2006 und 2009 von 74.000 auf 135.000 MW und die der netzverbundenen Photovoltaik-Anlagen von 5.100 auf 19.000 MW. Mit dem Eingeständnis ihres umfassend nutzbaren Potenzials hat die Auflösung des atomar/fossilen Weltbildes begonnen. Ihre psychologische Kraft ist, dass sich mit ihnen die realistische Hoffnung einer auf Dauer gesicherten und gefahrlosen Energieversorgung verbindet. Sie repräsentieren daher einen den atomaren und fossilen Energien überlegenen gesellschaftlichen Wert. Für das Denken über Energie ist das der springende Punkt.
Wer erkennt, dass erneuerbare Energien nicht nur eine Ergänzung zur gegenwärtigen Energieversorgung darstellen, sondern eine greifbare und umfassende Alternative, kann sich dieser kaum noch verweigern. Bei tatsächlich freier Wahlmöglichkeit werden sich die meisten Menschen für erneuerbare Energien und gegen Atomkraft oder fossile Energien entscheiden. Deutschland liefert dafür das praktische Beispiel. Nach dem im Jahr 2000 in Kraft getretenen Erneuerbare-Energien-Gesetz stieg deren Anteil an der Stromversorgung bis 2009 trotz anhaltender Widerstände von 4,5 auf 17 Prozent und ihr Anteil an der gesamten Energieversorgung von 3 auf 10 Prozent. Parallel dazu wuchs das Vertrauen der Menschen in dieses Energiepotenzial – und damit die Hoffnung und Erwartung, möglichst bald ganz darauf setzen zu können. 90 Prozent der Menschen in Deutschland sind nach Umfragen für einen weiteren massiven Ausbau, 75 Prozent wollen diesen in ihrer Heimatregion – und würden dafür sogar höhere Energiekosten akzeptieren. Weniger als 10 Prozent befürworten neue Atom- oder Kohlekraftwerke![1] Diese hohe Popularität ist trotz ausgiebiger Denunzierung erneuerbarer Energien entstanden, wie sie von konventionellen Energieunternehmen und dem Gros der Energieexperten in der Öffentlichkeit jahrzehntelang mit hohem medialem Aufwand betrieben wurde und notorisch weiter betrieben wird. Dennoch sind beide im Kampf um die öffentliche Meinung in Rückstand geraten – einem Kampf, der unvermindert anhält, inzwischen jedoch mit subtileren Methoden fortgesetzt wird.
Die Diskussion rankt sich heute vor allem um die Frage, wie groß der Zeitbedarf für einen vollständigen Wechsel zu erneuerbaren Energien ist. Kann dieser erst bis 2100 erfolgen? Oder bereits bis 2050? Meiner Überzeugung nach kann dieser Wechsel schneller realisiert werden, wenn wir alle dafür notwendigen Kräfte mobilisieren: weltweit im Zeitraum etwa eines Vierteljahrhunderts und in einigen Ländern und Regionen auch schon früher. Realisierbar ist dieser Wandel nicht nur aufgrund des enormen natürlichen Potenzials der erneuerbaren Energien, sondern auch angesichts des bereits verfügbaren technologischen Potenzials. Er ist nicht nur aus ökologischen Gründen geboten, sondern auch aus klar erkennbaren Gründen wirtschaftlicher Existenzsicherung. Er ist keine untragbare Belastung, sondern eine umfassende neue wirtschaftliche Chance für die Industrieländer und die große Chance für die Entwicklungsländer. Das wichtigste Potenzial dafür ist jedoch das der Menschen. Sie für erneuerbare Energien zu aktivieren, vor allem »die Politik« und »die Wirtschaft«, ist entscheidend. Es erfordert eine beispiellose politisch-kulturelle Kraftanstrengung. Doch historisch beispiellos ist auch die Herausforderung, vor der wir stehen. Sie ist umso schwieriger zu bewältigen, je länger wir sie vor uns herschieben. Zu viel Zeit ist schon verspielt worden.
Warum, wann und wie?
Wird der Wechsel von atomaren und fossilen zu erneuerbaren Energien nur bruchstückhaft und schrittweise vollzogen, stürzt die Weltzivilisation mit hoher Wahrscheinlichkeit in einen alle und alles erfassenden Krisentaumel: Dramatische Klimaveränderungen drohen ganze Lebensräume unbewohnbar zu machen und lösen Massenelend und Wanderungsbewegungen von Hunderten Millionen Menschen aus. Dies bürdet den Gesellschaften mehr Anstrengungen und Kosten für Schadensbegrenzungen auf, als für den Wechsel zu erneuerbaren Energien nötig sind. Schon rufen die Verknappung und Verteuerung atomarer und fossiler Energieressourcen einschneidende wirtschaftliche und damit soziale Brüche in den Industrieländern hervor und lassen die Entwicklungsländer immer weiter verarmen. Es drohen zunehmende internationale Konflikte über die Zugänge zu den Restressourcen, bis hin zu Ressourcenkriegen. Ungelöst und auch unlösbar bleiben die Probleme der Atomenergie, von den ständig schwelenden Sicherheitsgefahren des laufenden Betriebs bis zu denen des Atomterrorismus und dem Jahrtausendmenetekel des Atommülls. Der enorme Wasserverbrauch atomarer und fossiler Kraftwerke verschärft in immer mehr Regionen die Wasserkrise. Die Gesundheitsgefahren der atomaren und fossilen Energieversorgung mehren sich, und die Verseuchung der Meeresbiologie durch Erdöle erstreckt sich bis in die Nahrungskette. All diese gleichzeitig auftretenden und sich gegenseitig verschärfenden Krisen treffen die Gesellschaften ins Mark. Sie signalisieren, weit mehr als die globale Finanzkrise, die Einsturzgefahr des auf fossiler und atomarer Energiebasis entstandenen industriellen Zivilisationsmodells. Dieses hat sowohl in seiner kapitalistisch-marktwirtschaftlichen wie in seiner sozialistisch-planwirtschaftlichen Variante die Lebensgrundlagen bereits schwer beschädigt.
Jedes für den umfassend angelegten und vollständigen Wechsel zu erneuerbaren Energien versäumte Jahr ist deshalb ein verlorenes. Dieser Wechsel ist die ultima ratio: der letztmögliche Weg, existenzielle Gefahren abzuwenden, die irreversibel werden können. Er hat einen ultimativen Stellenwert, weil es keine andere Möglichkeit zur naturgemäßen und dauerhaften Energieversorgung der Menschen gibt. Die Folgen der überkommenen Energieversorgung zwingen uns daher zu unverzüglichem konsequenten Handeln.
Wohlfeile Bekenntnisse zu erneuerbaren Energien sagen wenig darüber aus, welcher Stellenwert ihnen tatsächlich zuerkannt wird: ein erst-, zweit- oder drittrangiger? Bei wem stellt dieses Bekenntnis lediglich ein Zugeständnis an eine besorgte Öffentlichkeit dar? Sind tatsächlich alle bekehrt, die die erneuerbaren Energien so lange negierten? Wird der Wechsel als zwingend geboten oder als aufschiebbar betrachtet? Von Mahatma Gandhi stammt der Satz: »First they ignore you, then they laugh at you, then they fight you, then you win.« In welcher der drei erstgenannten Phasen wir uns befinden, ist je nach Land und dessen Diskussions- und Entwicklungsstand unterschiedlich. Mehr als die Hälfte der weltweit eingeführten Windkraftkapazitäten wird in nur sechs Ländern eingesetzt (USA, Deutschland, China, Dänemark, Spanien und Indien). Etwa die Hälfte der weltweit netzintegrierten Photovoltaik-Anlagen ist allein in Deutschland installiert. Die installierten Kapazitäten für solarthermische Energieversorgung konzentrieren sich zu über 80 Prozent auf China und die Länder der Europäischen Union. Offensichtlich gibt es in zu vielen Ländern immer noch allzu viele, die die erneuerbaren Energien praktisch ignorieren.
Die einen entschuldigen ihr Zaudern damit, dass der Wechsel zu erneuerbaren Energien »viel Zeit« brauche und zu große und schnelle Schritte dahin eine unzumutbare wirtschaftliche Belastung darstellen würden.