Der energethische Imperativ. Hermann Scheer

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Der energethische Imperativ - Hermann Scheer

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entschieden werden.

      Die systematische Bestandsaufnahme, die ich in diesem Buch versuche, ist als Navigationshilfe für Durchbruchsstrategien gedacht. Ihr liegen meine Erfahrungen in der Entwicklung und im Durchsetzen der bisher national und international erfolgreichsten politischen Initiativen für erneuerbare Energien zugrunde – und ebenso meine Beobachtungen über Erfolge und Misserfolge von Konzepten in vielen Ländern. Um etwas durchzusetzen, muss man erkennen, mit welchen Hindernissen zu rechnen ist und wie sie überwunden werden können. Dazu muss man wissen, welche Interessen und Absichten hinter den Widerständen stehen und welche Kräfte dagegen gesetzt werden müssen. Dabei steht jeder einzelne Akteur vor der Frage, welches Grundverständnis von Realismus seinem eigenen Handeln zugrunde liegt: Zu viele verstehen darunter, nur das zu verfolgen, was im bestehenden Rahmen und in den gegebenen Kräfteverhältnissen realisierbar scheint. Wenn sich aus der Analyse eines Ist-Zustands aber nur beschränkte Handlungsmöglichkeiten ergeben, die auf die reale Herausforderung keine angemessene Antwort erlauben, ist ein anderes Verständnis von Realismus gefordert, das auf die Veränderung des Parallelogramms der Kräfte zielt, um den Handlungsrahmen erweitern zu können. Angesichts der sich zuspitzenden Gefahren aus der überkommenen Energieversorgung geht es nicht mehr nur um eine Politik als »Kunst des Möglichen«, sondern um eine möglich zu machende Politik der »Kunst des Notwendigen«. Das ist der reale Realismus, der für den Energiewechsel notwendig ist. Analysen und Konzepte müssen kompromisslos durchdacht werden. Kompromisse, die in der Regel unvermeidlich sind, gehören in das Feld der praktischen Umsetzung. Deshalb zeige ich, welche Engpässe bewältigt werden müssen und warum eindimensionale Betrachtungen nicht weiterführen. Gedankliche Öffnungen sind die Voraussetzung für praktische Durchbrüche.

      Der politische Schlüssel für den Energiewechsel besteht darin, den bestehenden energiewirtschaftlichen Handlungsrahmen aufzubrechen. Dieser ist zwangsläufig partikular und engt die umfassenden wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Chancen des Wechsels zu erneuerbaren Energien ein. Als gesamtwirtschaftliches und -gesellschaftliches Zukunftsprojekt kann der Energiewechsel nicht nur mit energiewirtschaftlichen Methoden und Kalkulationen realisiert werden. Die laufend vielfältiger werdenden technologischen Möglichkeiten machen ihn in einer Rasanz realisierbar, die Gegenwartspragmatiker für unmöglich halten. Ein schneller Energiewechsel bedarf zahlreicher autonomer Akteure, die mit ihren Initiativen nicht warten wollen und auch nicht abwarten müssen, was andere tun. Diese These, die ich in meinem Buch »Energieautonomie« (2005) vertreten und begründet habe, hat sich in der Praxis mittlerweile einschlägig bestätigt, entgegen den Unkenrufen der üblichen Sachzwangexperten. Um den Kleinmut zu überwinden, bedarf es weiterer politischer Schneisenschläge. Diese sind schon deshalb erforderlich, weil die konventionelle Energiewirtschaft ihre dominante Rolle nur durch vielfältige politische Protektion erringen konnte und aufrechterhalten kann. Diese Protektion, von der kaum gesprochen und die weit weniger kritisch betrachtet wird als politische Initiativen für erneuerbare Energien, muss politisch aufgekündigt werden.

      Mein Ausgangspunkt sind nicht die erneuerbaren Energien, sondern ist die Gesellschaft – aus der Erkenntnis, welche elementare Bedeutung der Energiewechsel für deren Zukunftsfähigkeit hat. Ich bin nicht von den erneuerbaren Energien zur Politik für diese gekommen, sondern aus meiner Problemsicht und von meinem Verständnis politischer Verantwortung zu den erneuerbaren Energien. Der Wechsel zu erneuerbaren Energien hat eine zivilisationsgeschichtliche Bedeutung. Deshalb müssen wir wissen, wie wir ihn beschleunigen können. Knapp sind nicht die erneuerbaren Energien, knapp ist die Zeit.

TEIL I

      1. KEINE ALTERNATIVE ZU ERNEUERBAREN ENERGIEN: Der lange verdrängte naturgesetzliche Imperativ

      Wie konnte es zu der dramatischen Zuspitzung auf eine Entscheidungssituation kommen, in der der Wechsel zu erneuerbaren Energien unter einem existenziellen Zeitdruck steht? Warum wurden erneuerbare Energien so lange negiert oder gering geschätzt? Diese Fragen müssen gestellt werden, trotz des Satzes von Albert Einstein: »Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben.« Um jedoch auf das richtige Zukunftsgleis zu kommen, ist das Diktum des Philosophen Sören Kierkegaard zu beachten: »Leben muss man das Leben vorwärts, verstehen kann man es nur rückwärts.« Der Rückblick hilft, die geistigen und strukturellen Widerstände, die der Zukunftsentwicklung im Wege stehen, klar genug zu erfassen. Jede Vergangenheit hinterlässt ihre gedanklichen, realen und psychologischen Spuren, ob sie uns bewusst sind oder nicht. Bemerkenswert ist nicht die in den letzten Jahren sprunghaft gewachsene Erkenntnis des grundlegenden Stellenwerts der erneuerbaren Energien, sondern vielmehr, wie lange dieser Erkenntnisprozess gedauert hat und dass es nicht längst viel mehr erprobte Technologien und konkrete Initiativen dafür gibt.

      Naturgesetzlich war immer schon vorgegeben, dass die Nutzung fossiler Energien nur ein Übergangsstadium sein konnte. Kristallklar und unwiderlegbar hat Wilhelm Ostwald, der 1909 den Nobelpreis für Chemie erhielt, in seinem 1912 publizierten Buch »Der energetische Imperativ« darauf hingewiesen, dass die »unverhoffte Erbschaft der fossilen Brennmaterialien« dazu verführt, »die Grundsätze einer dauerhaften Wirtschaft vorläufig aus dem Auge zu verlieren und in den Tag hinein zu leben«. Da sich diese Brennmaterialien unweigerlich aufbrauchen würden, ergebe sich daraus zwingend die Erkenntnis, dass eine »dauerhafte Wirtschaft ausschließlich auf die regelmäßige Energiezufuhr der Sonnenstrahlung gegründet werden kann.« So kam er zu seinem Imperativ: »Vergeude keine Energie, verwerte sie.« Mit Vergeudung meinte er die Verbrennung der fossilen Energien, die ein zerstörender Vorgang ist, weil die verwendeten Ressourcen dadurch für den Energieeinsatz unwiederbringlich verloren sind. Dagegen setzt er die Verwertung der immer vorhandenen Energie, die wir heute erneuerbare Energie nennen und die in Dänemark treffender »bleibende Energie« genannt wird. Dem »energetischen Imperativ« räumt Ostwald einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert ein als dem »kategorischen Imperativ« des Philosophen Immanuel Kant: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.«[3]

      Einfacher ausgedrückt, in einem alten Sprichwort: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füge keinem andern zu.« Jeder will in sauberer Luft leben, weshalb auch keiner die Luft anderer verschmutzen dürfte. Jeder Mensch braucht Energieressourcen, weshalb keiner so viel Energie beanspruchen darf, dass für andere nichts mehr übrig bleibt. Fest steht: Schon bisher reichte die fossile und die atomare Energie nicht aus, um die Energiebedürfnisse der gesamten Menschheit zu befriedigen. In naher Zukunft wird dies, angesichts der sich erschöpfenden Reserven bei gleichzeitig wachsendem Energiebedarf, immer weniger möglich sein. Ostwald sieht in Kants Imperativ ein Sittengesetz, während sein Imperativ naturgesetzlich ist. Ob ein Sittengesetz beachtet wird oder nicht, ist eine moralische Frage. Sie entscheidet über die Qualität des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Ein Naturgesetz lässt uns dagegen keine Wahl. Seine Nichtbeachtung hat für die Gesellschaft so schwerwiegende Folgen, dass sie auch eine Verwirklichung der ethischen Grundsätze Kants letztlich unmöglich machen würde.

      Ostwalds elementare Warnungen wurden überhört, obwohl er zu den weltweit anerkannten Wissenschaftlern seiner Zeit zählte. Dabei war der Energieverbrauch am Beginn des 20. Jahrhunderts noch vergleichsweise gering. Es gab nur 1,5 Milliarden Menschen auf der Erde statt 6,5 wie heute. Die Elektrifizierung steckte noch in den Anfängen, ebenso der Automobilverkehr. Es gab noch keinen Flugverkehr und ein deutlich geringeres Handels- und damit Transportvolumen, nur wenige energieverbrauchende Haushaltsgeräte und weder Radio noch Fernsehen. Die elementaren Warnungen Ostwalds kamen, je nach Blickwinkel, zu früh oder zu spät. Zu früh, weil das Problem noch nicht unter den Nägeln brannte. Und zu spät, weil die fossile Energiewirtschaft schon fest etabliert war und auf die Politik, die Industrieunternehmen und nicht zuletzt auf die technologische Entwicklung entscheidenden Einfluss ausübte.

      Die fossile Energiewirtschaft hatte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine über hundert Jahre lange Geschichte, beginnend mit einer technologischen Revolution: der Dampfmaschine von James Watt. 1769 patentiert, wurde sie anfangs mit Holzkohle

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