Der energethische Imperativ. Hermann Scheer
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Die Büchse der Pandora war geöffnet. Die Figur der Pandora symbolisiert in der griechischen Mythologie zusammen mit Prometheus das Energiedrama der Menschheit. Prometheus steht für einen neuen Energieentwurf oder die Suche danach, als derjenige, der das Feuer vom Himmel stahl und die Menschen lehrte, es zu gebrauchen. Der Göttervater Zeus betrachtete das als Frevel, weil den Menschen damit ein großes Unglück beschert wurde, ohne dass sie es in ihrer Begeisterung ahnten, und kettete Prometheus an einen Felsen. Da es aber nicht mehr möglich war, den Menschen das Feuer wieder wegzunehmen, wollte Zeus auch sie bestrafen. Er schuf die Figur der Pandora und schenkte ihr eine verschlossene Büchse, in der alle bösartigen Versuchungen enthalten waren. Diese verstreuten sich über die ganze Welt, als Pandora die Büchse neugierig öffnete. In der Büchse blieb nur die Hoffnung auf eine bessere Welt. Prometheus steht also für das vermessene Streben nach Möglichkeiten, die das menschliche Maß überschreiten, Pandora für die Verlockung, die sich daraus ergebenden Übel leichtsinnig freizusetzen.
Alle Sorgen, dass sich die Energieversorgung in umfassender und alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durchdringender Weise auf endliche fossile Energievorkommen eingelassen hatte, wurden in den 1950er Jahren durch die Atomenergie zerstreut. Diese wurde als saubere und tendenziell spottbillige Alternative zu den versiegenden fossilen Energien gepriesen. Sie erschien als ein neues, menschengemachtes prometheisches Geschenk. In der atomaren Euphorie überhörte man alle Warnungen, dass die Gesellschaft nun von der fossilen in eine atomare Sackgasse gelenkt werden könnte. Die hochkomplexe Atomenergie faszinierte. Den Atomphysikern wurde höchster Respekt gezollt. Es galt als unvorstellbar, dass die alle bisherigen physikalischen Errungenschaften weit überragende Kernspaltung, die für die Konstruktion von Atombomben entwickelt worden war, nicht auch einen überragenden zivilen Nutzwert haben könnte. Frühe Kritiker der Atomenergie wurden zu Randfiguren erklärt. Das musste z.B. Karl Bechert erleben, ein renommierter Professor der Naturwissenschaften, der zugleich Mitglied des Deutschen Bundestages war. Eindringlich warnte er vor den unlösbaren Gefahren der Atomenergie. Als 1957 das Atomgesetz beschlossen wurde, das ihr die Wege ebnete, stimmt er als einziger dagegen. Selbst in seiner eigenen Partei, der SPD, stieß er auf taube Ohren. Sein Widerspruch wurde als Ärgernis empfunden.
Die erste Nachkriegsgeneration stand unter dem Schock der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki vom August 1945. Sie lebte im kurz danach beginnenden »Kalten Krieg« zwischen »West« und »Ost« in akuter Angst vor einem Atomkrieg. Auch das erklärt die Hoffnung auf eine »friedliche Nutzung der Atomenergie«: angesichts des atomaren Wettrüstens und der atomaren Abschreckungsstrategien sollte der destruktiven Technologie der Atomspaltung eine konstruktive Seite abgewonnen werden. So wurde aus der Bewegung gegen die Atombombe eine für Atomkraftwerke. Erst später, ab den 1970er Jahren, reifte und verbreitete sich das Bewusstsein, dass auch diese Hoffnung eine gefährliche Schimäre ist. Aber die sich spätestens jetzt aufdrängende Konsequenz wurde immer noch nicht gezogen, das volle Augenmerk auf die erneuerbaren Energien – also auf die nichtfossile Alternative zur Atomenergie – zu richten. Noch erschien es selbst der aufkeimenden Umweltbewegung unvorstellbar, dass erneuerbare Energien allein die Energiebedürfnisse der Menschen befriedigen könnten. Bis in die 1990er Jahre hinein scheuten sich die meisten Wissenschaftler und Politiker, sich offen für erneuerbare Energien als ebenbürtige und sogar überlegene und höherwertige Option für die Energieversorgung auszusprechen. Selbst Verfechter der erneuerbaren Energien beugten sich der herrschenden Meinung und warben für ihre Projekte oftmals in einem entschuldigenden Ton. Ihnen war bewusst, dass sie damit Häresie gegen das ausgerufene »Atomzeitalter« begingen.
A. Die Macht des Bestehenden: Das Weltbild der fossilen und atomaren Energieversorgung
Jahrzehntelang hat die Atomenergie davon abgelenkt, dass die erneuerbaren Energien die originäre Alternative zu fossilen Energien darstellen. Der Atomenergie wurde die tragende Rolle für das nachfossile Zeitalter zugedacht, sogar mit Ausschließlichkeitsanspruch. Wäre stattdessen vor einem halben Jahrhundert mit derselben Intensität auf erneuerbare Energien gesetzt worden, so hätten wir wahrscheinlich heute kein die Weltzivilisation bedrohendes Klimaproblem. Wir hätten dann keine Energiekriege erleben müssen wie den Golfkrieg oder den Irakkrieg. Es gäbe deutlich weniger Luftverschmutzung und weniger Krankheiten – und keinen Atommüll, von dem wir nicht wissen, wo, wann und wie wir ihn dauerhaft und sicher lagern sollen und welche Probleme und Kosten er für undenkbar lange Zeiträume hinterlässt. Wir hätten wahrscheinlich längst eine Industrie mit Cleantech-Produkten, kaum Umweltflüchtlinge und weniger Armut in den Entwicklungsländern. Wir würden heute in einer Welt ohne kollektive Zukunftsängste leben. Die Weltzivilisation könnte sicher sein, den folgenden Generationen gleiche Lebenschancen zu hinterlassen, statt ihnen untragbare Lasten aufzubürden.
Dieses Gedankenspiel ist mehr als ein wehmütiger Rückblick: Den erneuerbaren Energien standen tatsächlich schon in den 1950er Jahren mehr greifbare technologische Möglichkeiten offen als der Atomenergie. Noch bevor ein einziges Atomkraftwerk gebaut war, gab es auf diesem Feld vielerlei praktische Erfahrungen. Wie Strom aus Wind produziert wird, wusste man bereits, seit der dänische Schulmeister Paul la Cour 1891 die erste Anlage in Betrieb genommen hatte. In den USA gab es in den 1930er Jahren schon mehrere Millionen Windräder in den Farmregionen.[4] Wie man Strom in solarthermischen Kraftwerken produziert, hatte Frankreich bereits demonstriert, nachzulesen in dem Buch »Das goldene Öl« von Marcel Perrot.[5] Auch die Stromerzeugung durch Lichtumwandlung (Photovoltaik) machte ab Mitte der 1950er Jahre erste Fortschritte. Zunächst war sie für die Raumfahrt entwickelt worden, wie in dem wegweisenden Buch von Wolfgang Palz über die Geschichte dieser Technologie rekapituliert wird.[6] Dass Strom mit von Wasser angetriebenen Turbinen produziert werden kann, war ohnehin Allgemeingut, denn die Geschichte der Stromproduktion begann mit vielen kleinen Wasserkraftwerken, bevor der Trend zu Großwasserkraftwerken mit immer größeren Stauseen einsetzte. Dezentrale Anlagen in Fließgewässern stellten längst ein großes Potenzial dar, das jedoch zunehmend vernachlässigt wurde. Auch für die Nutzung von Biogas gab es schon viele Beispiele, ebenso wie für Kraftstoffe aus Biomasse. Die technologischen Erfordernisse, um aus solchen Optionen ein zuverlässiges System der Stromversorgung zu machen, waren stets weniger komplex und aufwendig als bei der Atomenergie. Heute sind – trotz immer noch anhaltender Benachteiligung der erneuerbaren Energien in der staatlichen Forschungspolitik im Verhältnis zur Atomenergie – die technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten einer Umorientierung auf erneuerbare Energien so weit entwickelt, dass die vollständige Transformation der Energieversorgung ohne weitere Verzögerung zügig vorangetrieben und damit die atomare und fossile Epoche beendet werden kann.
Die auf fossile und Atomenergie gestützte Energieversorgung wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts zum Leitbild der Energieversorgung. Zu diesem gehört die Fixierung auf Großkraftwerke und dafür ausgelegte Stromnetze. Leitbilder, denen mehrere Generationen gefolgt sind, werden zu Axiomen – d. h. zu Grundannahmen, die keines weiteren Beweises mehr bedürfen und deren Infragestellung tabuisiert wird. In der Wissenschaft wurde daraus ein Paradigma, das die Denkrichtung bestimmte und Widerspruch ausschloss. Der Konsens der Wissenschaft übertrug sich auf die Politik, die Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt. Er bestimmt Entscheidungen, die physische Gestalt annehmen und für breite Bevölkerungskreise zur Selbstverständlichkeit werden. Menschen versuchen gewöhnlich, die Welt über das zu verstehen, was sie sehen