Der energethische Imperativ. Hermann Scheer

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Der energethische Imperativ - Hermann Scheer

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und Vietnam will in die Atomproduktion einsteigen. Selbst Brasilien – das Land, das zusammen mit Russland, Kanada und Australien das üppigste natürliche Potenzial erneuerbarer Energien besitzt – plant neue Atomkraftwerke. Die Internationale Energieagentur (IEA) fordert bis 2050 den Bau von jährlich zweiunddreißig neuen Atomkraftwerken, was bedeuten würde, dass alle elf Tage ein neues hinzukäme. Ein aggressives Weitermachen, selbst wenn diese Energien nachweislich kostspieliger werden als erneuerbare Energien: Was gefunden wird, muss gefördert und verkauft werden. Die globale »Pyromanie«, wie ich diese Zwangsvorstellung in meinem Buch »Solare Weltwirtschaft« nannte, wird unverdrossen fortgesetzt: »drill, drill, drill« ist die von »big oil« intonierte Parole des Krieges gegen die Umwelt, die selbst während der Bohrkatastrophe im Golf von Mexiko nicht verstummte. Das Schicksalsspiel mit der Erde wird fortgesetzt, immer mit der Rechtfertigung, dass das Potenzial erneuerbarer Energien »derzeit« nicht ausreichend sei.

      Obwohl also erneuerbare Energien salonfähig geworden sind, sollen sie keinesfalls den Bestand des fossilen und atomaren Energiesystems antasten, sondern nur für den zusätzlichen Energiebedarf zur Verfügung stehen: Es soll also möglichst keine Substitution atomarer und fossiler Energien stattfinden! Dieses Bestandsinteresse wird auch in Deutschland geltend gemacht. Es schlägt sich nieder im Versuch, den 2001 beschlossenen Ausstieg aus der Atomenergie rückgängig zu machen, ebenso in zahlreichen Plänen für den Bau neuer Kohlekraftwerke – mit Kapazitäten, als wären die erneuerbaren Energien kaum noch weiter ausbaufähig. Gleichzeitig häufen sich orchestrierte Attacken auf das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das einen schnellen Ausbau begünstigt. Zum Chor der Abwiegler erneuerbarer Energien gehören auch wirtschaftswissenschaftliche Institute. Der neue Konsens über erneuerbare Energien ist ein Scheinkonsens. Die etablierten Kräfte der Energieversorgung zielen allenfalls auf eine Koexistenz von atomaren und fossilen mit erneuerbaren Energien – mit möglichst großem Anteil für erstere und der Forderung, dass erneuerbare Energien in die Strukturen der herkömmlichen Energieversorgung eingepasst und entsprechend kanalisiert und beschränkt werden müssten.

      Das Grundmuster des eigentlichen Energiekonflikts hat sich also kaum geändert. Es ging dabei immer nur vordergründig um das Pro oder Contra zu erneuerbaren Energien, im Kern doch stets um die Strukturen der Energieversorgung und die Verfügungsmacht darüber. Die Ausrichtung auf die fossilen Energiequellen und später auf die Atomenergie ließ das heutige System der Energieversorgung entstehen. Die Umorientierung auf erneuerbare Energien gefährdet seine Struktur. Deshalb richten sich – nach der Phase der Ablehnung und des Belächelns ihrer Wegbereiter – nunmehr die Kräfte darauf, das Tempo des Energiewechsels zu drosseln. Deshalb mehren sich auch die Versuche der traditionellen Energiewirtschaft, Einfluss auf politische Entscheidungen, die Medien und die öffentliche Meinung zu nehmen. In den USA wurden unmittelbar mit dem Beginn der Präsidentschaft von Barack Obama mehr als zweitausend hochbezahlte Lobbyisten der amerikanischen Energiewirtschaft zusätzlich nach Washington geschickt, mit dem Auftrag, die angekündigte Energiewende durch gezielte Bearbeitung von Kongressabgeordneten und Medien zu durchkreuzen. Viel Geld wird für »greenwashing« ausgegeben, wie es Toralf Staud in seinem Buch »Grün, grün, grün ist alles, was wir kaufen« beschreibt.[2] Dass ehemalige Regierungsmitglieder unmittelbar nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt ins Management von Energiekonzernen überwechseln, nimmt ebenso auffällig zu wie die Zahl von Journalisten, die von Energiekonzernen als Medienberater angestellt werden, um öffentliche Landschaftspflege zu betreiben. Hinter dem Nebengeschäft für erneuerbare Energien wird das Hauptgeschäft mit konventionellen Energien weiter verfolgt.

      Der »nervus rerum«

      Der »neue« Energiekonflikt bricht vor allem dort aus, wo die Einführung erneuerbarer Energien schon so weit fortgeschritten ist, dass sie konventionelle Energien in größeren Anteilen ersetzen können. Das wahre Problem unter der Decke des Scheinkonsenses, der nervus rerum des Konflikts, besteht darin, dass die Systemerfordernisse –gemeint ist damit der technische, infrastrukturelle, organisatorische, finanzielle und nicht zuletzt politische Gesamtaufwand – der Bereitstellung von Atomenergie und fossilen Energien mit den Erfordernissen der erneuerbaren Energien nicht vereinbar sind. Das Ziel muss jedoch die vollständige Ablösung des bestehenden Energiesystems sein. Nur auf einen begrenzten Anteil erneuerbarer Energien zu setzen, wäre eine nicht zu rechtfertigende strategische Selbstbeschränkung mit der Konsequenz, das konventionelle System langfristig fortzuschreiben und es sogar politisch weiter stützen zu müssen. Und es bedeutet, über einen längeren Zeitraum zwei unterschiedliche Systeme der Energieversorgung unterhalten zu müssen, die sich ab einem bestimmten Punkt gegenseitig im Weg stehen.

      Zweifellos muss auf dem Weg zu hundert Prozent erneuerbaren Energien eine Übergangsphase durchschritten werden, mit wachsenden Anteilen erneuerbarer Energien an der Energieversorgung bei sinkenden Anteilen der konventionellen Energien, bis diese schließlich insgesamt ersetzt sind. In dieser Phase ist jedoch entscheidend, welche Systemerfordernisse maßgeblich sind: die des eingespielten Energiesystems oder die für erneuerbare Energien angemessenen. Damit ist ein Konflikt vorprogrammiert, der in der Geschichte der modernen Energieversorgung einmalig ist. Auf der einen Seite steht das konventionelle Energiesystem, das die gesamte Energieversorgung nach seinen Funktionserfordernissen durchstrukturiert hat und auf das alle entsprechenden Gesetze zugeschnitten sind. Auf der anderen Seite steht die Perspektive eines vollständig auf erneuerbaren Energien basierenden Systems mit großenteils konträren Funktionserfordernissen, für das politische Systemregeln bisher nur in Ansätzen entwickelt wurden.

      Zwischen dem jetzigen und dem anzustrebenden Zustand liegt eine Phase vieler Friktionen und Widersprüche. Nennen wir sie eine Hybridphase in Analogie zum Hybridauto, das mit zwei Motoren für zwei unterschiedliche Antriebsenergien ausgestattet ist. Das überkommene Energiesystem hält die Trumpfkarte eines eingespielten Konzepts und verlangt einen nur langsamen Energiewechsel, der nach seinen Regeln vollzogen werden soll. Die Trumpfkarte der erneuerbaren Energien ist nicht nur, dass es zu ihnen perspektivisch keine Alternative gibt, sondern dass sie tendenziell unabhängig vom konventionellen Energiesystem genutzt werden können und gesellschaftlich höher bewertet werden. Derzeit befinden wir uns jedoch noch in einer trial-and-error-Situation – mit einer Vielzahl konkurrierender Konzepte, die mehr oder weniger durchdacht sind und deshalb leicht gegeneinander ausgespielt werden können. Darin liegt das eigentliche Realisierungsproblem des Energiewechsels.

      Die Frage, wie diese Klippen überwunden werden können, um erneuerbare Energien schnell zur Entfaltung zu bringen, hat schlüsselhafte Bedeutung. Entscheidend ist einerseits, die Schwächen wie auch die Stärken des überkommenen Energiesystems zu erkennen. Umgekehrt muss jede Durchsetzungsstrategie auf die eigentlichen Stärken der erneuerbaren Energien bauen und sie zur Geltung bringen. Die jeweiligen Stärken und Schwächen sind nicht nur technischer und wirtschaftlicher Art, sondern auch mentale und nicht zuletzt politische. Weil das systemische Spannungsverhältnis der nervus rerum des Energiewechsels ist, steht der Systemkonflikt im Zentrum dieses Buches.

      Alte und neue Fronten

      In der »Hybridphase« der Umstellung verändern sich die Konstellationen und auch die Akteure. Lange Zeit waren die Fronten zwischen den Protagonisten erneuerbarer und konventioneller Energien klar und überschaubar. Auf der einen Seite die anfangs noch geringe Zahl von Wegbereitern erneuerbarer Energien: Organisationen für erneuerbare Energien, Umweltverbände, Umweltinstitute, einzelne Akteure in der Politik, Pionierunternehmen und Sympathisanten in den Medien. Auf der anderen Seite eine fast einhellige Ablehnungsfront, bestehend aus der Energieindustrie, den mit ihr traditionell eng kooperierenden Regierungen, den etablierten Forschungsinstituten und Wirtschaftsverbänden sowie dem Gros der Industrieunternehmen und Wirtschaftsmedien. Diese Fronten sind inzwischen aufgeweicht, und dabei haben auch Akteure die Seiten gewechselt.

      Industrieunternehmen, Kreditinstitute und Investmentgruppen haben erkannt, dass die Anlagenproduktion und die Finanzierung von Projekten für erneuerbare Energien für sie eine attraktive und wirtschaftliche Perspektive darstellt. In Wirtschafts- und Industrieverbänden, die lange Zeit fest an der Seite der etablierten Energiewirtschaft standen und mit dieser die Untauglichkeit der erneuerbaren Energien

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