Die ganze Geschichte. Yanis Varoufakis
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Katharina die Große hat einmal gesagt, wer kein gutes Beispiel sein könne, müsse eben eine schreckliche Warnung sein. Griechenlands Warnung an alle, die in Europa hinterherhinkten, war in der Tat furchtbar: Wer gegen die Finanzregeln verstieß, deren Einhaltung die Krise unmöglich machte, den erwartete ein eiserner Käfig aus Schulden und Austerität. Doch die junge Frau auf dem Syntagma-Platz, der obdachlose Dolmetscher Lambros und Millionen andere, die freudig bereit waren, Opfer zu bringen, aber nicht erleben wollten, in den bodenlosen Abgrund der griechischen Schulden geworfen zu werden, schienen entschlossen, dem Rest Europas zu zeigen, dass es humane Alternativen gab, dass Europas Notlage zwar schlimm war, aber nicht tragisch sein musste, dass unser Schicksal immer noch in unserer Hand lag.
Nach der brutalen Vertreibung der Besetzer des Syntagma-Platzes forderte die griechische Sommerhitze ihren Tribut: Die Besetzer kehrten nicht zurück. Stattdessen sickerten sie in die griechische Gesellschaft ein, wo sie ihre Botschaft verbreiteten, während sie auf die nächste Zuspitzung der Krise warteten. Dann sollte der Geist des Syntagma-Platzes zu einer unaufhaltsamen politischen Bewegung werden, die über die Wahlurne eine neue Regierung installierte. Deren einzige Aufgabe war es, die Wände des Schuldgefängnisses einzureißen und Bailoutistan zu stürzen. Aber um dorthin zu gelangen, waren erst vier Jahre mühsamer Vorarbeiten nötig.
KAPITEL 3
Von Zungen und Bogen
Er kam früh am Sonntagmorgen zurück. Danae und ich waren müde gewesen und schon zu Bett gegangen, hatten aber erst einschlafen können, als wir das beruhigende Klacken der Tür hörten, die ins Schloss fiel. Danaes siebzehnjähriger Sohn war gerade flügge geworden und tat, was jeder Athener Teenager an einem Samstagabend tut: Er ging mit Freunden aus, gemeinsam diskutierten sie bis spät in die Nacht über alles und jedes, meistens in Cafés in Psirri, einem Stadtviertel einen Steinwurf von der antiken Agora entfernt. Athen ist eine sehr sichere Stadt, und Psirri ist besonders sicher, aber wie alle Eltern lauschten wir auf das Klacken der Wohnungstür.
In jener Nacht läutete das Telefon, kaum dass ich eingeschlafen war. Weil Anrufe nach Mitternacht in der Regel bedeuten, dass jemand in der Familie krank geworden ist, sprang ich aus dem Bett und lief ins Wohnzimmer zum Telefon.
Eine auf unheimliche Weise sanft klingende männliche Stimme fragte: »Herr Varoufakis?«
Schlaftrunken antwortete ich: »Ja, wer spricht da?«
»Wir freuen uns sehr, dass Ihr Junge gut nach Hause gekommen ist. Er scheint einen großartigen Abend in Psirri verbracht zu haben. Dann ist er über die Metropolis-Straße nach Hause gegangen mit einem Umweg durch die Hadrian-Straße und über die Byron-Straße.«
Mir lief ein Schauer den Rücken herunter. Ich schrie ins Telefon: »Wer zum Teufel sind Sie? Was wollen Sie?«
Seine Antwort war eiskalt: »Herr Varoufakis, es war ein Fehler, dass Sie bestimmte Banken ins Visier genommen und in Ihren Artikeln erwähnt haben. Wenn Sie wollen, dass Ihr Junge auch in Zukunft jeden Tag, jeden Samstag gut nach Hause kommt, müssen Sie damit aufhören. Es gibt bessere Themen, mit denen Sie sich beschäftigen können. Schöne Träume noch.«
Was ich am meisten gefürchtet hatte, war eingetreten.
Es war November 2011, und das zweite Rettungspaket zeigte bereits Wirkung. Die erste Rettungsvereinbarung hatte dazu gedient, die schwächeren Europäer (hauptsächlich griechische Rentner und Arbeiter mit kleinen Einkommen) für ausländische Banken (hauptsächlich französische und deutsche) bezahlen zu lassen. Das zweite Rettungspaket zielte auf die griechischen Banken: Während der Haircut sie bis zu 32,8 Milliarden Euro kostete, würden sie über 41 Milliarden als Entschädigung bekommen, die sich die griechischen Steuerzahler bei den übrigen Steuerzahlern Europas liehen. Die griechischen Banker hatten allergrößtes Interesse, dass dieses spezielle Geschäft zustande kam.
Sie hatten zwei Befürchtungen. Erstens war das Parlament so erniedrigt, und die Abgeordneten waren so demoralisiert, dass die Banker fürchteten, der politische Prozess könnte ins Stocken geraten, bevor sie ihr Geld erhielten. Zweitens hatte die Europäische Zentralbank langsam genug von den Faxen der Banker und wollte demonstrieren, dass sie bereit war, hart durchzugreifen. Deshalb forderte sie, bevor die Banken mehr Geld aus öffentlichen Kassen bekamen, sollten sie erst einmal selbst Geld auftreiben. Aber woher sollten die griechischen Banken neues Kapital nehmen, da sie wie der Staat schlichtweg bankrott waren? Kein vernünftiger Investor würde einer Bank, die tief im Schlamassel steckte, Geld geben.
Zwei Männer und ein Whiskeyfass
Um eine Vorstellung zu bekommen, wie clever zwei griechische Banker dieses Problem lösten, hilft ein Witz, den ich in einem Pub in Dublin gehört habe. Es geht darin um zwei einfallsreiche Trunkenbolde.
Art und Conn haben beschlossen, dass sie etwas unternehmen müssen, um aus der Armut herauszukommen. Sie überreden Olcán, den Wirt im Ort, ihnen ein Fass Whiskey zu leihen. Ihr Plan ist, das Fass auf der Straße in den nächsten Ort zu rollen, wo ein Fest stattfindet. Dort wollen sie den Whiskey glasweise verkaufen. Sie rollen das Fass die Straße entlang und machen unter einer großen Eiche eine Pause. Während sie unter dem Baum sitzen, findet Art einen Schilling in seiner Tasche. Er freut sich und fragt: »He, Conn, kriege ich ein Glas Whiskey, wenn ich dir einen Schilling gebe?«
»Na klar«, erwidert Conn und steckt den Schilling ein.
Eine Minute später wird Conn klar, dass nun er einen Schilling hat. Er sagt zu seinem Kompagnon: »Art, was meinst du? Kriege ich auch ein Glas, wenn ich dir einen Schilling gebe?«
»Aber sicher, Conn.« Art nimmt seinen Schilling wieder.
Und so geht es weiter, der Schilling wechselt noch viele Male den Besitzer, bis Stunden später Art und Conn selig lächelnd und tief schlafend unter dem Baum liegen, neben ihnen das leere Whiskeyfass.
Ich weiß nicht, ob dieser Witz jemals griechischen Bankern zu Ohren gekommen ist, aber ihre Lösung, um Kapital für ihre Banken aufzutreiben, glich verblüffend dem Verhalten von Art und Conn, mit dem Unterschied, dass nicht sie am nächsten Tag einen Kater hatten. Und so machten es unsere beiden Banker, nennen wir sie Aris und Zorba:
Aris’ Familie gründete Offshore-Gesellschaften. Zorba erklärte sich heimlich bereit, den Gesellschaften ohne Sicherheiten und Bürgschaften die Millionen zu leihen, die Aris’ Bank brauchte. Warum so viel Großzügigkeit gegenüber einem Mitbewerber? Weil Zorba und Aris unter demselben sprichwörtlichen Baum saßen. Zorba brauchte verzweifelt Geld für seine eigene Bank und stimmte dem Kredit unter der Bedingung zu, dass Aris’ Bank den Offshore-Gesellschaften seiner, Zorbas, Familie entsprechende Summen leihen würde. Als alles geklärt war, kauften die Familien von Aris und Zorba mit dem Geld auf ihren Offshore-Konten neue Anteile an ihren eigenen Banken. Auf diese Weise erfüllten sie die Vorgaben der Regulierer, dass neues Kapital beschafft werden müsse, und zugleich auch die Bedingungen, damit echtes Geld fließen konnte, das der arme Steuerzahler sich bei der Troika lieh.
Der Kater von Art und Conn wurde noch dadurch verschlimmert, dass sie an ihre Schulden bei Olcán dachten. Aris und Zorba waren in dem Punkt besser dran: Sie schafften es nämlich, am Schluss niemandem etwas zu schulden. Beide Kredite – der von Zorbas Bank an die Offshore-Gesellschaften von Aris’ Familie und der von Aris’ Bank an die Offshore-Gesellschaften von Zorbas Familie – wurden von den Banken kurz nach der Vergabe abgeschrieben und auf die lange Liste der notleidenden