Die ganze Geschichte. Yanis Varoufakis
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Eines Tages gegen Ende Juni umstellten fünftausend Polizisten den Syntagma-Platz, um die Besatzer zu vertreiben. Sie setzten mehr Tränengas ein, als man es in einem relativ engen städtischen Raum jemals erlebt hatte, dazu noch Blend- und Rauchgranaten, Wasserwerfer und ganz altmodische Polizeigewalt und verwandelten den Platz und die Umgebung in eine Wüste. Kriegsreporter aus meinem Bekanntenkreis, die schon vieles erlebt hatten, sagten mir, sie hätten sich niemals vorgestellt, derartige Gewalt in einer Stadt wie Athen zu erleben. Häuserwände und das Pflaster waren schwarz vom Rauch, in der ganzen Stadt roch es noch wochenlang nach Chemikalien. An diesem Tag hatte die Regierung den letzten Rest ihrer Glaubwürdigkeit verloren, regelrecht ausgelöscht.
Bailoutistan 2.0
Die technischen Details, wie Ministerpräsident Papandreou abgesetzt wurde, sind zu traurig, um sie hier zu erzählen. Es genügt zu sagen, dass es wie in jedem guten Drama ablief: Die Troika brachte ihn durch politische Machenschaften zu Fall, mit Beteiligung der Höflinge, die seinen wackligen Thron umgaben. Es war typisch für die grausame Gleichgültigkeit der Troika gegenüber Menschen, die ihr loyal dienten, dass sie Giorgos Papandreou eine letzte Schmach zufügte, bevor sie ihn abservierte: Im Oktober 2011 musste er noch einmal nach Brüssel reisen, um seine Unterschrift unter den Entwurf für die zweite Rettungsvereinbarung und die Umschuldung zu setzen, die er im Namen der Troika so lange als »unnötig und nicht wünschenswert« abgelehnt hatte.
Eine Nachfolgeregierung zu finden, die die zweite Rettungsvereinbarung durch das Parlament bringen würde, war nicht einfach. Papandreous Rücktritt und die zunehmende Erschöpfung der regierenden Sozialisten sprachen für Neuwahlen. Aber was an den Urnen geschieht, ist unvorhersehbar, und die Organisation von Wahlen dauert mindestens einen Monat, zu lange aus Sicht der EU, des IWF und der griechischen Elite. Stattdessen bildeten sie eine Übergangsregierung aus mehreren Parteien, und erst nachdem sie das zweite Rettungspaket verabschiedet haben würde, sollten im Frühjahr 2012 Neuwahlen riskiert werden. Für die Bildung dieser großen Koalition musste Antonis Samaras, der Vorsitzende der oppositionellen konservativen Partei, für die Logik der Rettungspakete gewonnen werden, die er bislang abgelehnt hatte.
Eine Begegnung genügte – am 23. Juni 2011 in Berlin mit Kanzlerin Merkel –, um Antonis Samaras von seiner Zustimmung zu meiner ablehnenden Position abzubringen, die er in unserem Telefongespräch nach meinem Auftritt im staatlichen Fernsehen geäußert hatte. Die Aussicht, in die Villa Maximos einzuziehen, den Amtssitz des griechischen Regierungschefs, erwies sich als unwiderstehlich. Er war nicht der letzte Politiker, der die prinzipielle Gegnerschaft zu Rettungspaketen für dieses Amt opferte. Der Plan sah folgendermaßen aus: Nach Papandreous Rücktritt sollte ein »technokratischer« Ministerpräsident eingesetzt werden, die linke Mitte (PASOK) und die rechte Mitte (Nea Dimokratia) würden Minister in seiner Regierung stellen und für die nötige Unterstützung im Parlament sorgen. Sobald diese Regierung das zweite Rettungspaket durch das Parlament gebracht hätte, würde sie Neuwahlen ansetzen. Nach der Implosion der PASOK – die die moralischen und politischen Kosten des ersten Rettungspakets getragen hatte – würde die Nea Dimokratia von Antonis Samaras die Wahlen unweigerlich gewinnen. Sofern es Antonis Samaras mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, seine ablehnende Haltung zu Rettungspaketen über Bord zu werfen, sich für das zweite Paket auszusprechen und die Interimsregierung hinter den Kulissen zu unterstützen, musste er nur sechs bis acht Monate warten, um Ministerpräsident zu werden. Und genau so kam es dann auch.19
Als Gipfel des Zynismus wählten die Herren als Anführer der großen Koalition niemand anderen als den kurz zuvor zurückgetretenen Vizepräsidenten der Europäischen Zentralbank. Loukas Papadimos, ehemaliger Wirtschaftsprofessor in meiner Fakultät an der Universität Athen, würde einige unglückliche Äußerungen vergessen müssen, bevor er in die Villa Maximos einziehen konnte. Drei Tage bevor er seinen Amtseid ablegte, plapperte er immer noch die offizielle Linie der Troika nach, dass eine Restrukturierung der griechischen Schulden »weder nötig noch wünschenswert« sei. Aber als er auf der Schwelle der Villa stand, umringt von Journalisten, die auf seine ersten offiziellen Worte lauerten, verkündete er mit vollkommen unbewegter Miene, seine wichtigste Pflicht als Ministerpräsident werde es sein, sich um die Restrukturierung der griechischen Schulden zu kümmern.
Und damit kommen wir zu einem köstlichen Augenblick in unserer Geschichte: Ausgerechnet die Menschen, die bisher alle Befürworter einer Umschuldung als Narren und Verräter bezeichnet hatten, fanden sich auf einmal in der Rolle derjenigen wieder, die nach dem Willen der Troika die Umschuldung durchführen sollten. Für sich genommen wäre das eine amüsante Fußnote gewesen, wenn es bei der Umschuldung tatsächlich darum gegangen wäre, Griechenland wieder zahlungsfähig zu machen. Aber das war nie die Absicht.
Gegenüber Gläubigern zahlungsunfähig zu sein und sich formell bankrott zu erklären, ist eine furchtbare Sache. Aber es hat ein Gutes: Die Schulden schrumpfen, man bekommt eine Chance, sich durch harte Arbeit selbst aus dem Sumpf zu ziehen und das Vertrauen potenzieller Investoren wiederzuerlangen. Auf diese Weise erholte sich beispielsweise General Motors nach 2009 und die Deutschen kehrten in den 1950er-Jahren unter die Lebenden zurück: durch deutliche Schuldenerleichterungen. Aber für Griechenland kam das nicht infrage, es sollte Geschichte schreiben. Nach den Bedingungen der zweiten Rettungsvereinbarung würde die Regierung den größten Zahlungsausfall in der Weltgeschichte erklären und dank des größten Kredits in der Weltgeschichte trotzdem weiter im Schuldgefängnis bleiben.
Der Schuldenschnitt in Höhe der Rekordsumme von 100 Milliarden Euro traf Griechenlands wehrlose Rentner, seine Berufsverbände und kleinen Anleihebesitzer – sie mussten sich von dem Geld verabschieden, das sie dem Staat geliehen hatten –, während der Nation ein Rekordkredit über 130 Milliarden Euro in den Rachen gestopft wurde, von dem so gut wie nichts beim griechischen Staat ankommen würde. Ein großer Teil der Gelder ging stattdessen an griechische Banker (eine mehr als ausreichende Entschädigung für die Verluste, die sie durch den Schuldenschnitt bei den Anleihen erlitten hatte), ein weiterer Teil an Griechenlands private ausländische Geldgeber (als Anreiz, dass sie den Schuldenschnitt akzeptierten), und ein dritter Teil wurde dazu verwendet, die Kredite aus der ersten Rettungsvereinbarung mit der EU und dem IWF zu bedienen.20
Bailoutistan 2.0 brachte drei neue Institutionen, die dieses Regime noch schlimmer machten als die Vorläuferversion. Diese drei Institutionen umgingen das Parlament und höhlten damit die demokratische Souveränität des Landes aus. Es waren ein neuer Mechanismus zur Rettung der Banker, eine neue Form der Verwaltung von Staatseinnahmen und Zöllen und eine Abteilung, die im Interesse der Geldgeber das Tafelsilber verschleuderte – mit anderen Worten Privatisierungen nach den Regeln des Griechenland-Programms der Troika durchführte. Ein rascher Blick auf die drei ist eine nützliche Einführung in das System Bailoutistan 2.0.
Die wohl hässlichste der drei Institutionen war die erste, der Mechanismus zur Rettung der Banker. Wenn in eine private Firma Geld gepumpt wird, erhält der Geldgeber Anteile an der Firma im Verhältnis zu dem, was er zur Verfügung stellt, und einen entsprechenden Einfluss auf die Führung des Unternehmens. Nach der zweiten Rettungsvereinbarung sollten die Banker 41 bis 50 Milliarden Euro erhalten, neue Staatsschulden, die die Staatsbürger belasteten. Aber statt im Gegenzug irgendeine Form der öffentlichen Kontrolle über die bankrotten Banken zu gewährleisten, wurde ein raffinierter Weg ersonnen, um solche Kontrollen komplett zu umgehen. Ein neuer Fonds wurde eingerichtet, der sich ganz im Besitz des griechischen Staats befand, der Griechische Stabilitätsfonds (Hellenic Financial Stability Fund, HFSF). 50 Milliarden Euro der insgesamt 130 Milliarden des zweiten Rettungspakets flossen an den HFSF mit der Anweisung, sie umgehend an die privaten Banken weiterzureichen. Rechtlich gesehen sollten die Banker Anteile im Wert