Die ganze Geschichte. Yanis Varoufakis

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Die ganze Geschichte - Yanis Varoufakis

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der französischen und deutschen Banken zu sozialisieren, sie mit dem Geld anderer Leute zu bezahlen?

      In meinem Buch Der globale Minotaurus, das ich 2010 schrieb, während Griechenland implodierte, habe ich argumentiert, dass die kapitalistische Ideologie vom freien Markt 2008 kollabierte, siebzehn Jahre nach dem Ende des Kommunismus. Bis 2008 stellten die begeisterten Anhänger des freien Markts den Kapitalismus als darwinistischen Dschungel dar, der unter heldenhaften Unternehmern die erfolgreichsten auswählte. Aber nach dem finanziellen Kollaps von 2008 stand der darwinistische Ausleseprozess auf einmal kopf: Je insolventer eine Bank war, besonders in Europa, desto besser waren ihre Aussichten, sich große Teile vom Einkommen anderer Menschen unter den Nagel zu reißen: von den hart Arbeitenden, den Innovativen, von den Armen und natürlich von allen, die keine politische Macht hatten. Für dieses neue System prägte ich die Bezeichnung Bankrottokratie.

      Die meisten Europäer denken gerne, die amerikanische Bankrottokratie sei wegen der Macht der Wall Street und der berüchtigten Drehtür zwischen den amerikanischen Banken und der amerikanischen Regierung schlimmer als ihr europäisches Pendant. Wie unrecht sie doch haben. Die europäischen Banken wurden in den Jahren vor 2008 so grauenhaft schlecht geführt, dass die hirnlosen Banker der Wall Street dagegen geradezu gut aussehen. Als die Krise zuschlug, standen die französischen, deutschen, niederländischen und britischen Banken mit über 30 Billionen Dollar im Risiko, mehr als das Doppelte des BIP der Vereinigten Staaten, mehr als das Achtfache des BIP von Deutschland und beinahe dreimal so viel wie das Sozialprodukt von Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Holland zusammen.8 Ein Bankrott Griechenlands 2010 hätte eine sofortige Bankenrettung durch Deutschland, Frankreich, die Niederlande und Großbritannien erforderlich gemacht, die jedes Kind, jede Frau und jeden Mann in diesen vier EU-Ländern ungefähr 10.000 Dollar gekostet hätte. Im Vergleich: Ein ähnliches Problem an der Wall Street hätte vergleichsweise geringe Kosten von nicht mehr als 258 Dollar pro US-Bürger verursacht. Wenn der Zorn der amerikanischen Öffentlichkeit die Wall Street auch zu Recht traf, die europäischen Banken hätten das 38,8-Fache dieses Zorns verdient gehabt.

      Und das ist noch nicht alles. Washington konnte die toxischen Papiere der Wall Street bei der Federal Reserve parken und dort lassen, bis sie entweder wieder Gewinn bringen würden oder schließlich vergessen wären und der Entdeckung durch künftige Archäologen harrten. Einfach ausgedrückt: Die Amerikaner müssten nicht einmal die vergleichsweise harmlosen 258 Dollar pro Kopf aus ihren Steuern bezahlen. Aber in Europa, wo Länder wie Frankreich und Griechenland im Jahr 2000 ihre Zentralbanken abgeschafft hatten und die EZB keine uneinbringlichen Forderungen übernehmen durfte, musste das Geld für die Bankenrettung bei den Staatsbürgern eingetrieben werden. Wenn Sie sich jemals gefragt haben, warum das europäische Establishment so viel mehr Wert auf Austeritätspolitik legte als das amerikanische oder japanische, dann haben Sie hier den Grund. Weil die EZB die Sünden der Banken nicht in ihren Büchern verstecken darf, müssen die Regierungen ihre Staatsbürger zwingen, die Bankenrettung durch Einschnitte bei Sozialleistungen und Steuererhöhungen zu finanzieren.

      War die schändliche Behandlung Griechenlands eine Verschwörung? Wenn ja, war es eine Verschwörung ohne bewusste Verschwörer, zumindest am Anfang. Christine Lagarde und die ihr Gleichgesinnten hatten nie vor, Europas Bankrottokratie zu begründen. Aber was für eine Wahl hatten sie, die französische Finanzministerin, ihre europäischen Pendants und der IWF, als alles zur Rettung der französischen Banken zu tun, die dem sicheren Tod ins Auge blickten – selbst wenn das bedeutete, neunzehn europäische Parlamente auf einmal hinsichtlich der Kredite für Griechenland zu belügen? Aber nachdem sie einmal eine so gewaltige Lüge präsentiert hatten, blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihre Lüge immer weiter zu vergrößern und sich hinter immer neuen Ausflüchten zu verstecken. Hätten sie die Wahrheit gesagt, wären sie ihre Ämter los gewesen. Bevor sie sich versahen, hatte die Bankrottokratie auch sie erfasst, genau wie sie Europas Outsider erfasst hatte.

      Das teilte mir Christine Lagarde mit, als sie mir anvertraute, »sie« hätten zu viel in das gescheiterte Griechenland-Programm investiert, um jetzt davon abzurücken. Sie hätte auch die elegantere Formulierung von Lady Macbeth verwenden können: »Getan wird nie mehr ungetan.«

      »Vaterlandsverräter« – Die Ursprünge eines kuriosen Vorwurfs

      Meine Karriere als »Vaterlandsverräter« begann im Dezember 2006. Damals wurde ich gebeten, in einer öffentlichen Debatte, die der Thinktank eines ehemaligen Ministerpräsidenten organisiert hatte, etwas zum griechischen Haushalt des Jahres 2007 zu sagen. Nach einem Blick auf die Zahlen musste ich einfach das jämmerliche Beschönigungsmanöver beim Namen nennen:

      Heute … bedrohen uns die Blasen auf dem amerikanischen Häusermarkt und auf dem Derivatemarkt … Wenn diese Blasen platzen, und sie werden mit Sicherheit platzen, wird es keine Zinssenkung mehr schaffen, die Investitionen in diesem Land so wiederzubeleben, dass die Wirtschaft sich wieder fängt, und diese ganzen Haushaltszahlen sind hinfällig … Die Frage ist nicht, ob das passiert, sondern wie schnell sich daraus unsere nächste große Wirtschaftskrise entwickelt.

      Die anderen, die mit mir auf dem Podium saßen, darunter zwei ehemalige Finanzminister, schauten mich an, als hätte ich den Verstand verloren und sei hier fehl am Platz.9 In den nächsten zwei Jahren begegnete mir dieser Blick immer wieder. Selbst nachdem Lehman Brothers geplatzt, die Wall Street kollabiert und der Westen in der großen Rezession versunken war, lebten Griechenlands Eliten weiter in einer rosigen Wolke der Selbsttäuschung. Ob bei Dinnerpartys, in Seminaren an der Universität oder in Kunstgalerien, überall schwärmten sie, dass Griechenland gegen die »angelsächsische Krankheit« immun sei, in der sicheren Überzeugung, unsere Banken seien ausreichend konservativ und die griechische Volkswirtschaft bestens gerüstet, um den Sturm abzuwettern. Wenn ich darauf hinwies, dass nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein konnte, wirkten meine Worte als schrille Dissonanz. Doch es wurde noch schlimmer.

      Tatsächlich zahlen Staaten niemals ihre Schulden zurück. Sie prolongieren sie, das heißt, sie schieben die Tilgung unbegrenzt hinaus und bezahlen nur die Zinsen. Solange sie das können, sind sie solvent.10 Man kann sich Staatsschulden am besten wie ein tiefes Loch im Boden vorstellen neben einem Berg, der für das Volkseinkommen des Landes steht. Tag für Tag wird das Loch tiefer, selbst wenn der Staat keine neuen Schulden macht, weil sich Zinsen zu den Schulden summieren. Aber in den guten Zeiten, wenn die Wirtschaft wächst, wird auch der Einkommensberg immer höher. Solange der Berg schneller wächst als das Loch, kann man das zusätzliche Einkommen in das Loch schaufeln und so seine Tiefe stabil und den Staat solvent halten. Insolvenz droht, wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst oder sogar schrumpft: Dann nagt die Rezession am Einkommensberg des Landes, und das Tempo, mit dem das Schuldenloch tiefer wird, lässt sich nicht mehr bremsen. Alarmierte Finanzleute, die dieses besorgniserregende Szenario beobachten, werden höhere Zinsen für ihre Kredite fordern als Preis dafür, dass sie den Staat weiter refinanzieren, doch höhere Zinsen wirken wie übereifrige Bagger, die noch schneller graben und das Loch noch tiefer machen.

      Vor der Krise von 2008 hatte Griechenland innerhalb der Europäischen Union das tiefste Schuldenloch im Verhältnis zu seinem Einkommensberg. Aber wenigstens wuchs der Berg schneller, als das Loch tiefer wurde, was einen Anschein von Nachhaltigkeit erzeugte.11 All das änderte sich bedrohlich Anfang 2009, als die französischen und deutschen Banken ins Wanken gerieten, weil sie sich die Taschen mit toxischen amerikanischen Derivaten vollgestopft hatten, die nach dem Einbruch der Wall Street wertlos waren. Das doppelte Unglück für Griechenland bestand darin, dass das Wachstum bisher durch immer neue Schulden angetrieben worden war – Kredite, die Unternehmen (oft auf dem Weg über den griechischen Staat) von eben den französischen und deutschen Banken bekommen hatten, die auch dem Staat Geld liehen.12 In dem Augenblick, in dem die Banken in Panik gerieten und dem privaten und dem öffentlichen Sektor in Griechenland gleichzeitig den Geldhahn zudrehen würden, wäre das Spiel aus: Griechenlands Einkommensberg würde kollabieren und das Schuldenloch zu einem Abgrund werden.13 Mit diesen düsteren Überlegungen

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