Die ganze Geschichte. Yanis Varoufakis
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Meine Erklärung hätte ich in Form von ein oder zwei Geschichten präsentieren können. Die erste hätte wahrscheinlich in einer Athener Polizeistation im Herbst 1946 begonnen, als Griechenland am Rand eines kommunistischen Aufstands und in der zweiten Phase des schrecklichen Bürgerkriegs steckte. Die Geheimpolizei hatte einen zwanzigjährigen Chemiestudenten der Universität Athen mit Namen Giorgos festgenommen, zusammengeschlagen und mehrere Stunden in einer kalten Zelle liegen gelassen, bis ihn ein Beamter höheren Rangs in sein Büro holte, scheinbar, um sich zu entschuldigen: »Es tut mir leid, dass du so hart angepackt wurdest. Du bist ein guter Junge und hast das nicht verdient. Aber weißt du, es sind verräterische Zeiten, und meine Männer sind am Ende. Vergib ihnen. Unterschreib einfach hier, und dann kannst du gehen. Entschuldigung noch einmal.«
Der Beamte wirkte ehrlich, und Giorgos war erleichtert, dass die Hölle, die er in der Gewalt der Schläger durchlitten hatte, vorbei war. Aber dann begann er das Schriftstück zu lesen, das er unterschreiben sollte, und es lief ihm kalt den Rücken herunter. Auf dem maschinengeschriebenen Blatt hieß es: »Hiermit verurteile ich wahrhaftig und in aller Ehrlichkeit den Kommunismus, alle, die den Kommunismus verbreiten, und ihre verschiedenen Gefolgsleute.«
Zitternd vor Angst legte er den Stift hin, nahm alle Freundlichkeit zusammen, die seine großzügige Mutter Anna ihm im Lauf der Jahre mitgegeben hatte, und sagte: »Herr Polizist, ich bin kein Buddhist, aber ich würde nie eine Erklärung unterschreiben, dass ich den Buddhismus verurteile. Ich bin kein Muslim, aber ich denke nicht, dass der Staat das Recht hat, von mir zu verlangen, dass ich den Islam verurteile. Ich bin auch kein Kommunist und sehe nicht ein, warum man von mir verlangt, den Kommunismus zu verdammen.«
Giorgos’ Verweis auf die Meinungsfreiheit half nichts. Entweder unterschreiben oder systematische Folter und Haft von unbegrenzter Dauer. »Du hast die Wahl!«, schleuderte der aufgebrachte Beamte ihm entgegen. Er hatte durchaus Grund gehabt, etwas anderes zu erwarten. Giorgos besaß alle Eigenschaften eines guten Jungen – ein geborener Insider. Er war im ägyptischen Kairo geboren und aufgewachsen, in einer Mittelschichtfamilie innerhalb einer großen griechischen Gemeinschaft, die selbst in einer kosmopolitischen europäischen Enklave mit Franzosen, Italienern und Briten lebte, Seite an Seite mit gebildeten Armeniern, Juden und Arabern. Zu Hause sprachen sie dank seiner Mutter Französisch, in der Schule Griechisch, bei der Arbeit Englisch, auf der Straße Arabisch und in der Oper Italienisch.
Mit zwanzig wollte Giorgos zu seinen griechischen Wurzeln zurückkehren. Er gab seinen komfortablen Posten in einer Kairoer Bank auf und zog nach Griechenland, um Chemie zu studieren. Im Januar 1945 traf er an Bord der Corinthia in Athen ein, gerade einen Monat nach Ende der ersten Phase des griechischen Bürgerkriegs, der ersten Episode des Kalten Kriegs. Eine fragile Entspannung lag in der Luft, und Giorgos erschien es vernünftig, als studentische Aktivisten der Linken wie der Rechten ihn als Kompromisskandidaten für den Vorsitz der Studentenschaft seiner Fakultät auswählten.
Kurz nach seiner Ernennung erhöhte die Universitätsleitung jedoch die Studiengebühren, zu einer Zeit, als die Studenten in absoluter Armut vegetierten. Giorgos stattete dem Dekan einen Besuch ab und brachte alle erdenklichen Argumente gegen die Erhöhung vor. Beim Hinausgehen überwältigte ihn ein Geheimpolizist auf der Marmortreppe der Fakultät und zerrte ihn in einen wartenden Lieferwagen. Und dann wurde er vor eine Wahl gestellt, gegen die Summers’ Dilemma wie ein Spaziergang im Park wirkt.
Da der junge Mann aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammte, hatte der Polizeibeamte erwartet, dass er entweder freudig unterschreiben oder unter der Folter rasch zusammenbrechen würde. Doch je mehr er geschlagen wurde und je länger die Folter dauerte, desto weniger frei fühlte sich Giorgos, zu tun, was er am liebsten getan hätte: zu unterschreiben, die Qual zu beenden und nach Hause zu gehen. Und so kam er schließlich in verschiedene Zellen und Gefangenenlager, denen er jederzeit hätte entgehen können, wenn er nur seine Unterschrift unter ein einziges Blatt Papier gesetzt hätte. Vier Jahre später kehrte Giorgos, nur noch ein Schatten seiner selbst, aus dem Gefangenenlager in eine trostlose Gesellschaft zurück, die von seinem speziellen Dilemma weder etwas wusste noch sich wirklich dafür interessierte.
Unterdessen, während Giorgos in Haft gewesen war, wurde eine junge Frau, vier Jahre jünger als Giorgos, als erste weibliche Studierende zum Studium der Chemie an der Universität Athen zugelassen, obwohl die Hochschule alle Hebel in Bewegung gesetzt hatte, das zu verhindern. Eleni, so ihr Name, begann das Studium als rebellische Feministin, bevor der Begriff überhaupt existierte. Trotzdem hegte sie eine heftige Abneigung gegen die Linken: Während der nationalsozialistischen Besatzung war sie als sehr junges Mädchen von linken Partisanen entführt worden, die sie für die Verwandte eines NS-Kollaborateurs gehalten hatten. Nach ihrer Einschreibung an der Universität warb eine faschistische Organisation namens X sie an, weil sie so entschieden antikommunistisch eingestellt war. Ihr erster – und wie sich herausstellte, auch ihr letzter – Auftrag lautete, auf Schritt und Tritt einem Kommilitonen zu folgen, der ebenfalls Chemie studierte und gerade erst aus dem Lager entlassen worden war.
Das ist, kurz zusammengefasst, die Geschichte meiner Entstehung. Denn Giorgos ist mein Vater und Eleni, die in den 1970er-Jahren eine wichtige Rolle in der Frauenbewegung spielte, war meine Mutter. Mit dieser Geschichte im Gepäck war es für mich ausgeschlossen, auf der gepunkteten Linie zu unterschreiben als Gegenleistung für die Gnade, die Insidern gewährt wird. Hätte Larry Summers das verstanden? Ich glaube nicht.
Nicht mit mir
Die zweite Geschichte geht so: Ich lernte Lambros in dem Apartment kennen, das Danae und ich in Athen bewohnen, ungefähr eine Woche bevor die Wahl im Januar 2015 mich ins Amt des Finanzministers brachte. Es war ein milder Wintertag, der Wahlkampf voll im Gang, und ich hatte mich bereit erklärt, einer spanischen Journalistin namens Irene ein Interview zu geben. Sie kam zu uns zusammen mit einem Fotografen und mit Lambros, einem Dolmetscher für Spanisch, der in Athen wohnte. Wie sich herausstellte, waren seine Dienste nicht nötig, denn Irene und ich sprachen auf Englisch miteinander. Aber er blieb da, sah sich um und hörte vor allem zu.
Nach dem Interview, als Irene und der Fotograf ihre Sachen zusammenpackten und auf die Tür zusteuerten, trat Lambros zu mir. Er schüttelte mir die Hand und wollte sie gar nicht mehr loslassen, während er mit der Konzentration eines Mannes, dessen Leben davon abhängt, dass er seine Botschaft überbringt, zu mir sagte: »Ich hoffe, Sie haben es mir nicht angesehen. Ich bemühe mich sehr, niemanden etwas merken zu lassen, aber ich bin obdachlos.« Und dann erzählte er mir sehr knapp seine Geschichte.
Lambros war Lehrer für Fremdsprachen gewesen, er hatte eine Wohnung gehabt und eine Familie. 2010, als die griechische Wirtschaft zusammenbrach, verlor er seine Arbeit, und als sie aus ihrer Wohnung geworfen wurden, verlor er auch seine Familie. Das letzte Jahr hatte er auf der Straße gelebt. Seine einzige Einkommensquelle waren Dolmetscherdienste für ausländische Journalisten, die nach Athen kamen, um von der neuesten Demonstration auf dem Syntagma-Platz zu berichten, die aus dem Ruder gelaufen war und es deshalb in die Nachrichten geschafft hatte. Seine Gedanken kreisten darum, wie er ein paar Euro zusammenkratzen konnte, um sein billiges Mobiltelefon aufzuladen, damit ausländische Nachrichtencrews Kontakt zu ihm aufnehmen konnten, wenn sie in der Stadt waren.
Er fühlte, dass er mit seinem Monolog zum Ende kommen musste, und brachte an, was er von mir wollte:
Ich bitte Sie inständig, mir etwas zu versprechen. Ich weiß, dass Sie die Wahl gewinnen werden. Ich rede mit den Menschen auf der Straße und habe daran keinen Zweifel. Bitte, wenn Sie gewinnen und im Amt sind, denken Sie an diese Menschen. Tun Sie etwas für sie. Nicht für mich! Ich bin am Ende. Wen die Krise zu Fall gebracht hat, der steht nicht mehr auf. Für uns ist es zu spät. Aber bitte, bitte tun Sie etwas für die, die noch am Rand stehen. Die sich noch mit den Fingernägeln festkrallen. Die noch nicht abgestürzt sind. Lassen Sie sie nicht fallen. Drehen Sie ihnen nicht den Rücken