Die ganze Geschichte. Yanis Varoufakis
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Zurück im Hotel trocknete ich mich erst einmal ab. Zwei Stunden bevor der Wecker läuten und mich zurück an die Front rufen würde, wälzte ich eine große Sorge hin und her: Wie würden meine Kameraden zu Hause, wie würde der innere Kreis der Regierung Summers’ Frage beantworten? In der Nacht war ich entschlossen zu glauben, dass ihre Antworten genauso ausfallen würden, wie meine Antwort ausgefallen war.
Nicht einmal zwei Wochen später kamen mir die ersten echten Zweifel.
Super Black Boxes
Giorgos Chatzis verschwand am 29. August 2012. Er wurde zuletzt im Büro der Rentenversicherung in der kleinen Stadt Siatista in Nordgriechenland gesehen. Dort sagte man ihm, dass seine monatliche Erwerbsunfähigkeitsrente von 280 Euro nicht mehr ausbezahlt werde. Augenzeugen berichteten, er habe sich nicht mit einem einzigen Wort beklagt. »Er wirkte geschockt und schwieg«, hieß es in einer Zeitung. Wenig später rief er auf seinem Mobiltelefon ein letztes Mal seine Frau an. Weil niemand zu Hause war, hinterließ er eine Nachricht: »Ich fühle mich nutzlos. Ich kann dir nichts mehr bieten. Kümmere dich um die Kinder.« Wenige Tage später wurde in einem abgelegenen Waldstück seine Leiche gefunden. Er hatte sich an einem Felsvorsprung erhängt, neben ihm auf dem Boden lag sein Mobiltelefon.
Ein paar Monate später erregte die Welle von Selbstmorden infolge der schweren Wirtschaftskrise in Griechenland die Aufmerksamkeit der internationalen Presse. Damals hatte sich Dimitris Christoulas, ein siebenundsiebzigjähriger Apotheker im Ruhestand, neben einem Baum auf dem Syntagma-Platz mitten in Athen erschossen. Er hinterließ ein herzzerreißendes Manifest gegen die Sparpolitik. Früher hätte die stille, würdige Trauer der Angehörigen von Christoulas und Chatzis noch den härtesten Schergen voller Scham verstummen lassen – aber nicht so in Bailoutistan, wie ich Griechenland nach 2010 sarkastisch genannt habe. Unsere Schergen halten sich von ihren Opfern fern, verbarrikadieren sich in Fünfsternehotels, brausen mit ihren Autokolonnen durch die Straßen und beruhigen ihre gelegentlich flatternden Nerven mit haltlosen Zahlen, die wirtschaftliche Erholung verheißen.
In jenem Jahr 2012, drei lange Jahre bevor Larry Summers mir den Unterschied zwischen Insidern und Outsidern erklärte, zeigte meine Lebensgefährtin Danae Stratou in einer Galerie im Zentrum von Athen eine Kunstinstallation unter dem Titel: Es ist Zeit, die Black Boxes zu öffnen! Das Werk bestand aus hundert Metallkisten, die in geometrischer Anordnung auf dem Boden verteilt waren. Jede Kiste enthielt ein Wort, ausgewählt aus Tausenden von Vorschlägen, mit denen die Athener in den sozialen Medien Danaes Frage beantwortet hatten: »Sagen Sie in einem Wort: Wovor haben Sie am meisten Angst, oder was möchten Sie unbedingt bewahren?«
Danaes Idee war, dass diese Kisten anders als etwa die Black Box eines im Meer versunkenen Flugzeugs geöffnet werden sollten, bevor es zu spät war. Das Wort, das die Athener am häufigsten genannt hatten, war nicht Arbeitsplatz, Rente oder Ersparnisse. Der Verlust, den sie am meisten fürchteten, war der Verlust von Würde. Auf der Insel Kreta, deren Bewohner für ihren Stolz berühmt sind, hatte es seit Ausbruch der Krise die meisten Selbstmorde gegeben. Wenn eine Wirtschaftskrise sich zuspitzt und die Früchte des Zorns »schwer und reif zur Ernte« werden, stürzt uns der Verlust der Würde in die tiefste Verzweiflung.
In meinem Beitrag für den Ausstellungskatalog zog ich den Vergleich zu einer anderen Art von Black Box. Technisch gesehen, so führte ich aus, sei eine Black Box ein Gegenstand oder ein System, dessen Funktionsweise undurchsichtig bleibt. Wir verstehen aber, dass die Black Box in der Lage ist, Input in Output zu verwandeln, und nutzen sie ganz selbstverständlich. Ein Mobiltelefon beispielsweise verwandelt die Bewegungen unserer Finger mühelos in ein Gespräch oder die Bestellung eines Taxis, obwohl es für die meisten von uns, wenn auch nicht für versierte Elektroingenieure, ein Rätsel bleibt, was im Inneren des Mobiltelefons passiert. Wie Philosophen gesagt haben, sind die Köpfe anderer Menschen der Inbegriff von Black Boxes: Wir können nicht wissen, was genau im Kopf eines anderen Menschen vorgeht. (Während der einhundertzweiundsechzig Tage, von denen dieses Buch handelt, habe ich mich oft bei dem Wunsch ertappt, die Menschen um mich herum, insbesondere meine Waffenbrüder, würden in diesem Sinn etwas weniger Black Boxes ähneln.)
Aber dann gibt es noch die »Super Black Boxes«, wie ich sie nenne, die Black Boxes, die so groß und so wichtig sind, dass selbst diejenigen, die sie geschaffen haben und kontrollieren, nicht vollständig verstehen, wie sie im Inneren funktionieren: zum Beispiel die Finanzderivate, deren Wirkungen nicht einmal die Finanzjongleure durchschauen, die sie ersonnen haben; globale Banken und multinationale Konzerne, deren Aktivitäten oft nicht einmal ihre Chefs ganz begreifen; und natürlich Regierungen und supranationale Institutionen wie der Internationale Währungsfonds mit Politikern und einflussreichen Bürokraten an der Spitze, die Ämter bekleiden, aber selten die Macht innehaben. Auch sie verwandeln Input – Geld, Schulden, Steuern, Wählerstimmen – in Output – Gewinn, noch kompliziertere Formen von Schulden, Kürzungen bei Sozialleistungen, in der Gesundheits- und Bildungspolitik. Der Unterschied zwischen diesen Super Black Boxes und dem bescheidenen Smartphone – oder auch anderen Menschen – ist, dass die meisten von uns keine Kontrolle über den Input haben, ihr Output jedoch unser aller Leben bestimmt.
Der Unterschied steckt in einem einzigen Wort: Macht. Nicht die Art von Macht, die mit der Gewalt von Meereswellen verbunden wird, sondern eine subtilere, unheilvollere Macht: die Macht der »Insider«, wie Larry Summers sie nennen würde, denen ich mich, wie er fürchtete, nicht anschließen würde, die Macht der geheimen Informationen.
Während und nach meiner Zeit als Minister wurde ich immer wieder gefragt: »Was wollte der IWF von Griechenland? Handelten diejenigen, die Schuldenerleichterungen ablehnten, so, weil sie eine rechtswidrige geheime Agenda hatten? Waren sie Handlanger von Konzernen, die Griechenlands Infrastruktur plündern wollten – seine Flughäfen, Hotelanlagen am Meer, Telefongesellschaften und so weiter?« Wenn die Dinge doch nur so einfach wären.
Wenn eine große Krise zuschlägt, ist es verlockend, eine Verschwörung der Mächtigen dafür verantwortlich zu machen. Sofort haben wir Bilder im Kopf von rauchgeschwängerten Räumen, in denen gerissene Männer (und ab und zu eine Frau) ausbaldowern, wie sie auf Kosten der Schwachen und des Allgemeinwohls Profit machen können. Das sind natürlich Hirngespinste. Wenn unsere bejammerswerte Lage auf eine Verschwörung zurückgeführt werden kann, dann eine solche, bei der die Verschwörer noch nicht einmal wissen, dass sie daran beteiligt sind. Was sich für viele wie eine Verschwörung der Mächtigen anfühlt, ist einfach etwas, das bei jedem Netzwerk von Super Black Boxes spontan entsteht.
Der Schlüssel zu solchen Netzwerken ist Exklusion und Intransparenz. Erinnert sei nur an das Motto »Gier ist geil«, das vor dem großen Knall 2008 an der Wall Street und in der City of London herrschte. Viele anständige Bankangestellte waren krank vor Sorge über das, was sie da beobachteten und taten. Aber wenn sie Beweise oder Informationen vor sich liegen hatten, die schreckliche Entwicklungen ahnen ließen, sahen sie sich Summers’ Dilemma gegenüber: Sie konnten sie an Outsider weitergeben und in der Bedeutungslosigkeit versinken, sie für sich behalten und Komplizen werden, oder ihre Macht ausüben und ihre Informationen gegen die von jemand anderem tauschen und damit eine improvisierte Zwei-Personen-Allianz schmieden, die beiden Beteiligten innerhalb des größeren Insidernetzwerks schlagartig mehr Macht verleihen würde. Wenn weitere heikle Informationen ausgetauscht werden, schmiedet diese Zwei-Personen-Allianz Verbindungen mit anderen ähnlichen Allianzen. Das Ergebnis ist eine Machtstruktur innerhalb anderer Strukturen, die Beteiligten konspirieren de facto, ohne bewusst Verschwörer zu sein.
Wenn ein Politiker, der etwas weiß, einem Journalisten ein Exklusivinterview gibt und im Gegenzug eine Berichterstattung bekommt, die in seinem Interesse liegt, wird der Journalist, wenn auch unwissentlich, in ein Netz von Insidern einbezogen. Wenn