Die ganze Geschichte. Yanis Varoufakis
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die ganze Geschichte - Yanis Varoufakis страница 3
KAPITEL 1
Einführung
Den einzigen Farbklecks in der schummrigen Hotelbar lieferte die bernsteinfarbene Flüssigkeit, die in dem Glas vor ihm schimmerte. Als ich näher trat, hob er den Blick und begrüßte mich mit einem Kopfnicken, bevor er sich wieder seinem Whiskyglas zuwandte. Erschöpft ließ ich mich auf das dick gepolsterte Sofa fallen. Wie aufs Stichwort erklang imponierend düster seine vertraute Stimme:
»Yanis, du hast einen schweren Fehler gemacht.«
Spät in einer Frühlingsnacht legt sich eine Sanftmut über Washington D.C., die tagsüber unvorstellbar ist. Wenn die Politiker, die Lobbyisten und die Hofschranzen verschwunden sind, verfliegt alle Spannung. In den Bars verlieren sich die wenigen Menschen, die nicht schon wieder früh am Morgen auf den Beinen sein müssen, und die noch weniger zahlreichen, die ihre Probleme nicht schlafen lassen. In dieser Nacht wie in den einundachtzig Nächten davor und tatsächlich auch den einundachtzig Nächten danach gehörte ich zu Letzteren.
In die Dunkelheit gehüllt, war ich eine Viertelstunde von Nr. 700 19th Street N.W., dem Sitz des Internationalen Währungsfonds, zu der Hotelbar gegangen, wo ich ihn treffen sollte. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ein so kurzer Spaziergang, noch dazu im gesichtslosen Washington, so erfrischend sein konnte. Die Aussicht auf die Begegnung mit dem großen Mann trug zu meiner Erleichterung bei: Nach fünfzehn Stunden an einem Tisch mit lauter mächtigen Leuten, die entweder zu unbedeutend oder zu eingeschüchtert waren, um offen zu sprechen, würde ich nun jemanden treffen, der in Washington und darüber hinaus großen Einfluss hatte, einen Mann, dem niemand Bedeutungslosigkeit oder Kleinmut vorwerfen konnte.
Meine Stimmung änderte sich schlagartig bei seiner bissigen Begrüßung, die in dem dämmrigen Licht und mit den huschenden Schatten noch bedrohlicher wirkte.
Ich versuchte, unbeeindruckt zu klingen. »Und was für ein Fehler war das, Larry?«
»Du hast die Wahl gewonnen!«
Es war am 16. April 2015, genau in der Mitte meiner kurzen Amtszeit als griechischer Finanzminister. Nicht einmal sechs Monate zuvor hatte ich das Leben eines Wissenschaftlers geführt, der an der Lyndon B. Johnson School of Public Affairs an der Universität im texanischen Austin lehrte, während er von der Universität Athen beurlaubt war. Aber im Januar 2015 hatte sich mein Leben über Nacht verändert, als ich als Abgeordneter ins griechische Parlament gewählt wurde. Ich hatte nur ein einziges Wahlversprechen abgegeben: dass ich alles in meiner Macht Stehende tun würde, um mein Land aus der Schuldknechtschaft und der erdrückenden Sparpolitik zu befreien, die seine europäischen Nachbarn und der IWF ihm auferlegt hatten. Dieses Versprechen hatte mich nach Washington gebracht und – mit der Hilfe meiner engen Mitarbeiterin Elena Panaritis, die das Treffen vereinbart hatte und mich an dem Abend begleitete – in diese Bar.
Ich versteckte meine Beklemmung hinter einem Lächeln über seinen trockenen Humor. Dabei schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Wollte er so meine Entschlossenheit gegenüber einem Meer von Feinden stärken? Ich tröstete mich mit der Erinnerung, dass der einundsiebzigste Finanzminister der Vereinigten Staaten und siebenundzwanzigste Präsident der Universität Harvard nicht für seinen konzilianten Umgangston bekannt war.
Um das ernste Gespräch, das uns bevorstand, noch ein paar Augenblicke hinauszuschieben, signalisierte ich dem Barkeeper, dass er mir auch einen Whisky bringen sollte. »Bevor du mir erklärst, Larry, was für einen ›Fehler‹ ich gemacht habe, möchte ich dir sagen, wie wichtig deine unterstützenden Worte und dein Rat für mich in den letzten Wochen waren. Ich bin dir wirklich sehr dankbar. Besonders, weil ich dich seit Jahren als Fürst der Finsternis bezeichne.«
Larry Summers erwiderte ungerührt: »Immerhin hast du mich als Fürst bezeichnet. Ich habe schon anderes gehört.«
In den nächsten beiden Stunden unterhielten wir uns ernsthaft. Wir sprachen über technische Dinge: Gläubigerbeteiligung, Fiskalpolitik, Reform der Finanzmärkte, Bad Banks. In politischer Hinsicht warnte er mich, dass ich dabei sei, den Propagandakrieg zu verlieren, und dass »die Europäer«, wie er die amtierenden europäischen Politiker nannte, mich kleinkriegen wollten. Er meinte, und da stimmte ich zu, dass eine neue Vereinbarung für mein leidgeprüftes Land so aussehen müsse, dass die deutsche Kanzlerin sie ihren Wählern als ihre Idee präsentieren könne, als ihr persönliches Vermächtnis.
Unser Gespräch lief besser, als ich gehofft hatte, wir stimmten in allen wichtigen Punkten überein. Es war ein großer Erfolg, dass ich mir im Kampf gegen mächtige Institutionen, Regierungen und Medienkonglomerate, die alle die Kapitulation meiner Regierung und meinen Kopf auf einem Silbertablett forderten, die Unterstützung des Respekt einflößenden Larry Summers gesichert hatte. Nachdem wir uns über die nächsten Schritte verständigt hatten und bevor die Müdigkeit und der Alkohol uns zwangen, den Abend zu beschließen, schaute Summers mich eindringlich an und stellte mir eine Frage, die so gut vorbereitet klang, dass ich vermutete, er habe vor mir schon andere damit getestet.1
»Es gibt zwei Arten von Politikern«, begann er. »Insider und Outsider. Die Outsider legen Wert darauf, dass sie ihre Version der Wahrheit frei aussprechen können. Der Preis dafür ist, dass sie von den Insidern ignoriert werden, die die wichtigen Entscheidungen treffen. Die Insider wiederum folgen einer heiligen Regel: Sag nie etwas gegen andere Insider und sprich niemals mit Outsidern über das, was Insider sagen und tun. Welche Belohnung bekommen sie dafür? Zugang zu Insiderinformationen und die Chance, allerdings nicht die Garantie, wichtige Menschen und Ergebnisse zu beeinflussen.« Und damit kam Summers zu seiner Frage: »Also, Yanis, welche Art von Politiker bist du?«
Mein Bauchgefühl riet mir, mit einem einzigen Wort zu antworten. Stattdessen holte ich weiter aus.
»Von meinem Charakter her bin ich der geborene Outsider. Aber«, fügte ich gleich hinzu, »ich bin bereit, meinen Charakter zu unterdrücken, wenn es hilft, eine neue Vereinbarung für Griechenland abzuschließen, die unser Volk aus dem Schuldgefängnis befreit. Du kannst mir glauben, Larry: Ich werde mich so lange wie ein geborener Insider benehmen, wie es nötig ist, damit eine praktikable Übereinkunft auf den Tisch kommt – für Griechenland und für Europa. Aber wenn die Insider, mit denen ich verhandle, nicht bereit sind, Griechenland aus der ewigen Schuldknechtschaft zu entlassen, dann werde ich ohne Zögern den Whistleblower spielen – wieder nach draußen zurückkehren, was sowieso mein natürlicher Lebensraum ist.«
Nach einer langen, versonnenen Pause erwiderte er: »Das ist nur fair.«
Wir erhoben uns beide zum Gehen. Als wir aus der Hotellobby traten, merkten wir, dass der Himmel während unseres Gesprächs seine Schleusen geöffnet hatte. Ich wartete, bis er in sein Taxi gestiegen war, und wurde in meiner leichten Frühjahrsjacke nass bis auf die Haut. Nachdem sein Taxi davongebraust war, registrierte ich, dass ich einen wilden Traum verwirklichen konnte, der mich in den endlosen Sitzungen der letzten Tage und Wochen immer wieder verfolgt hatte: Ich konnte allein, unbemerkt, im Regen spazieren gehen.
Während ich ganz allein durch die Nässe marschierte, rekapitulierte ich unsere Begegnung. Summers war ein Verbündeter, wenn auch ein widerstrebender. Mit der linken Politik meiner Regierung konnte er nichts anfangen. Aber er hatte begriffen, dass unser Untergang nicht im Interesse Amerikas lag. Er wusste, dass die Wirtschaftspolitik Europas nicht nur grausam für Griechenland war, sondern schrecklich für Europa und damit auch für Amerika. Und er wusste, dass Griechenland nur das Labor war, in dem diese verfehlte Politik ausprobiert und weiterentwickelt wurde, bevor man sie in ganz Europa einsetzte. Deshalb hatte er mir eine helfende Hand gereicht. Obwohl wir unterschiedliche politische Überzeugungen hegten, sprachen wir ökonomisch die gleiche Sprache und hatten kein Problem, rasch zu einer Einigung zu gelangen, welche Ziele wir verfolgen und