Die ganze Geschichte. Yanis Varoufakis

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Die ganze Geschichte - Yanis Varoufakis

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      Es ist schwer zu erklären, aber ich empfand von Anfang an keine Feindseligkeit gegenüber Christine Lagarde. Ich erlebte sie als intelligent, herzlich, respektvoll. Mein Weltbild geriete nicht ins Wanken, wenn bewiesen würde, dass sie tatsächlich eine humane Übereinkunft mit den Griechen wollte. Aber das spielt keine Rolle. Für sie als wichtiger Insider hatte es höchste Priorität, das politische Kapital der Insider zu schützen und jede Bedrohung ihrer kollektiven Autorität abzuwehren.

      Doch mit der Glaubwürdigkeit verhält es sich wie mit den Ausgaben: Man muss Kompromisse machen. Jeder Kauf bedeutet den Verzicht auf eine Alternative. Mein Verhältnis zu Christine Lagarde und anderen Mächtigen zu verbessern, bedeutete, meine Glaubwürdigkeit in den Augen von Lambros zu schmälern, dem obdachlosen Dolmetscher, der mich beschworen hatte, die Interessen all der Menschen zu vertreten, die noch nicht wie er von dem Sturm des Bankrotts erfasst worden waren, der über unser Land hinwegfegte. Dieses persönliche Dilemma stellte sich für mich nicht. Die amtierenden Machthaber erkannten das früh, deshalb war es für sie wichtig, mich von der Bühne zu vertreiben.

      Knapp ein Jahr später reiste ich im Vorfeld des britischen EU-Referendums vom 23. Juni 2016 durch Großbritannien und hielt Reden zur Unterstützung der Kräfte, die für einen Verbleib in der EU kämpften. Sie argumentierten, Großbritannien müsse in der EU bleiben, um Widerstand von innen zu leisten, um die EU zu reformieren und vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Es war schwierig. Die britischen Outsider zu überzeugen, für den Verbleib zu stimmen, erwies sich als Sisyphusarbeit, besonders im Norden von England, weil selbst meine britischen Unterstützer – Männer und Frauen, die in ihrer Denkweise und Haltung Lambros näherstanden als Christine – mir sagten, sie verspürten den Drang, dem globalen Establishment eine Tracht Prügel zu verpassen. Eines Abends hörte ich in der BBC, dass Christine Lagarde sich mit den Leitern der anderen Top-Institutionen der Welt (der Weltbank, der OECD, der EZB, der Bank of England und so weiter) zusammengetan hatte, um die britischen Outsider vor den Verlockungen des Brexit zu warnen. Sofort schickte ich aus Leeds, wo ich an dem Tag sprechen sollte, eine SMS an Danae: »Wer braucht noch Kämpfer für den Brexit, wenn er solche Verbündete hat?«

      Der Brexit hat gewonnen, weil die Insider den Bogen überspannt haben. Nach Jahrzehnten, in denen sie die Glaubwürdigkeit von Menschen wie mir daran maßen, ob wir bereit waren, die Outsider zu betrügen, die für uns gestimmt hatten, merkten sie nicht einmal, dass die Outsider sich nicht im Mindesten um ihre Meinung scherten. Ob in Amerika oder Großbritannien, in Frankreich oder Deutschland, überall spüren die Insider, dass ihnen die Felle davonschwimmen. Weil sie Gefangene ihrer eigenen Machenschaften sind, Sklaven von Summers’ Dilemma, sind sie wie Macbeth dazu verdammt, Irrtum auf Irrtum zu häufen, bis sie begreifen, dass ihre Krone nicht mehr die Macht symbolisiert, die sie innehaben, sondern die Macht, die ihnen entglitten ist. In den wenigen Monaten, die ich mit ihnen zu tun hatte, bekam ich einen Eindruck von dieser tragischen Erkenntnis.

      Es waren die (französischen und deutschen) Banken, Dummkopf!

      Freunde und Journalisten fragen mich oft, was bei meinen Verhandlungen mit Griechenlands Gläubigern das Schlimmste gewesen sei. Dass ich nicht laut verkünden durfte, was die Mächtigen mir privat sagten, war sicherlich frustrierend, aber schlimmer war es, mit Gläubigern zu verhandeln, die ihr Geld nicht wirklich zurückhaben wollten. Mit ihnen zu verhandeln, zu versuchen, Argumente anzubringen, war ungefähr so, als würde man mit Generälen über einen Friedensvertrag sprechen, die wild entschlossen sind, ihren Krieg fortzusetzen, in dem sicheren Wissen, dass ihren Söhnen und Töchtern nichts passieren kann.

      Um was für einen Krieg handelte es sich? Warum verhielten sich Griechenlands Gläubiger, als wollten sie ihr Geld nicht zurück? Was veranlasste sie, die Falle aufzustellen, in der sie nun selbst steckten? Das Rätsel lässt sich im Handumdrehen lösen, wenn man sich ansieht, in welchem Zustand sich die französischen und die deutschen Banken nach 2008 befanden.

      Griechenlands endemische Unterentwicklung, Korruption und Missmanagement erklären seine chronische wirtschaftliche Schwäche. Aber die Insolvenz hängt mit fundamentalen Fehlern in der Konstruktion der EU und ihrer Währungsunion, dem Euro, zusammen. Die EU begann als ein Kartell großer Unternehmen, das den Wettbewerb in der mitteleuropäischen Schwerindustrie begrenzen und ihr in peripheren Ländern wie Italien und Griechenland Absatzmärkte sichern sollte. Die Defizite von Ländern wie Griechenland waren das Pendant zu den Überschüssen von Ländern wie Deutschland. Solange die Regierung die Drachme abwerten konnte, hielten sich die Defizite in Grenzen. Aber als die Drachme durch den Euro ersetzt wurde, trieben die Kredite von deutschen und französischen Banken das griechische Defizit in die Stratosphäre.

      Die Kreditklemme von 2008, die auf den Kollaps der Wall Street folgte, schickte Europas Banken in den Bankrott; 2009 stellten sie die Kreditvergabe ein. Weil Griechenland seine Schulden nicht mehr prolongieren konnte, stürzte es später im Jahr in die Insolvenz. Auf einmal standen drei französische Banken vor Verlusten aus Krediten an die Peripherie, deren Volumen doppelt so groß war wie das französische BIP. Zahlen von der Bank of International Settlement zeigen ein wirklich furchterregendes Bild: Für jeweils 30 Euro Risiko stand nur ein Euro Deckung zur Verfügung. Das bedeutete, wenn nur 3 Prozent der riskanten Kredite ausfielen – wenn 106 Milliarden Euro aus Krediten, die sie Staaten, Unternehmen und Haushalten der Peripherie gewährt hatten, nicht zurückgezahlt werden konnten –, mussten die drei wichtigsten französischen Banken vom Staat gerettet werden.

      Allein die Kredite eben dieser drei Banken an Italien, Spanien und Portugal summierten sich auf 34 Prozent des gesamten französischen BIP – 627 Milliarden Euro, um präzise zu sein. Außerdem hatten diese Banken in den zurückliegenden Jahren auch noch dem griechischen Staat bis zu 102 Milliarden Euro geliehen. Wenn Griechenland seine Raten nicht begleichen konnte, würden Finanzleute weltweit Angst bekommen und Portugal kein Geld mehr geben, möglicherweise auch Italien und Spanien nicht mehr, weil sie fürchteten, dass sie als Nächste in Rückstand geraten könnten. Wenn Italien, Spanien und Portugal ihre zusammengenommen 1,76 Billionen Euro Schulden nicht mehr zu akzeptablen Zinssätzen refinanzieren konnten, würden sie massiv bedrängt werden, die Kredite der drei führenden französischen Banken zu bedienen, was tiefe schwarze Löcher in ihre Bilanzen reißen würde. Über Nacht würden Frankreichs größte Banken 19 Prozent ihrer »Aktiva« verlieren, wobei schon ein Verlust in Höhe von 3 Prozent sie insolvent machen würde.

      Um das Loch zu stopfen, würde der französische Staat über Nacht schlappe 562 Milliarden Euro aufbringen müssen. Aber während die Bundesregierung der Vereinigten Staaten solche Verluste auf ihre Zentralbank (die Federal Reserve) abschieben kann, hatte Frankreich seine Zentralbank im Jahr 2000, als es der gemeinsamen Währung beigetreten war, abgeschafft. Seitdem war das Land auf den guten Willen der gemeinsamen Zentralbank Europas angewiesen, der EZB. Leider hatte man der EZB ein ausdrückliches Verbot in die Wiege gelegt: Schulden der Südländer, private wie staatliche, dürfen nicht in die Bücher der EZB verschoben werden. Punkt. Nur unter dieser Bedingung hatte Deutschland seine geliebte D-Mark mit dem Pöbel Europas geteilt, unter dem neuen Namen Euro.

      Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, welche Panik Frankreichs Präsident Sarkozy und seine Finanzministerin Christine Lagarde erfasste, als sie erkannten, dass sie womöglich bis zu 562 Milliarden Euro aus dem Hut zaubern mussten. Und es ist nicht schwer, sich die Angst eines Vorgängers von Christine Lagarde auszumalen, des berüchtigten Dominique Strauss-Kahn, der zu der Zeit an der Spitze des IWF stand und entschlossen war, aus dieser Position seinen Wahlkampf für die nächste französische Präsidentschaftswahl zwei Jahre später zu führen. Frankreichs Spitzenbeamte wussten, dass ein Bankrott Griechenlands den französischen Staat zwingen würde, sich sechs Mal so viel Geld zu leihen, wie er jährlich an Steuern einnahm, nur um sie diesen idiotischen drei Banken hinzuwerfen.

      Es war einfach unmöglich. Hätten die Märkte Wind davon bekommen, was da drohte, wären die Zinsen für die französischen Staatsschulden in die Stratosphäre geschossen, und innerhalb von Sekunden

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