Die ganze Geschichte. Yanis Varoufakis
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Die deutsche Kanzlerin steckte unterdessen nicht weniger in der Zwickmühle. 2008, als die Banken der Wall Street und der City of London wankten, pflegte Angela Merkel noch immer ihr Image als knausrige, finanziell sehr vorsichtige eiserne Kanzlerin. Auf die verschwenderischen Banker der Anglosphäre zeigte sie moralisierend mit dem Finger, und sie machte Schlagzeilen mit einer Rede in Stuttgart, in der sie sagte, die amerikanischen Banker hätten sich bei einer schwäbischen Hausfrau Rat holen sollen, sie hätte ihnen einiges über den Umgang mit Geld erzählen können. Man stelle sich ihr Entsetzen vor, als sie wenig später lauter aufgeregte Telefonanrufe von ihrem Finanzminister, ihrer Zentralbank und ihren Wirtschaftsberatern erhielt, alle mit der gleichen unfassbaren Botschaft: »Frau Bundeskanzlerin, auch unsere Banken sind bankrott! Damit ihre Geldautomaten weiter Geld ausspucken, brauchen wir eine Geldspritze in Höhe von 406 Milliarden Euro von den schwäbischen Hausfrauen – möglichst gestern!«
Das war der Inbegriff von politischem Gift. Wie konnte sie vor dieselben Abgeordneten treten, denen sie jahrelang Vorträge über die Tugend des Sparens gehalten hatte, wenn es um Krankenhäuser, Schulen, Infrastruktur, soziale Sicherheit, die Umwelt gegangen war, und sie nun inständig bitten, einen derart gewaltigen Scheck für Banker zu unterschreiben, die noch Sekunden zuvor in Geld geschwommen waren? Aber Not kennt nun einmal kein Gebot, und so atmete Kanzlerin Merkel tief durch, ging in den nach einem Entwurf von Norman Foster umgebauten Reichstag mit der berühmten Kuppel, überbrachte den sprachlosen Parlamentariern die schlechte Nachricht und verließ das Gebäude wieder mit dem erbetenen Scheck in der Hand. Geschafft, dürfte sie gedacht haben. Nur dass es nicht geschafft war. Wenige Monate später glühten die Telefone wieder: Dieselben Banken brauchten noch einmal die gleiche Summe.
Warum brauchten die Deutsche Bank, die Commerzbank und andere Türme der finanziellen Inkompetenz mit Sitz in Frankfurt mehr Geld? Weil der Scheck über 406 Milliarden Euro, den sie 2009 von Frau Merkel bekommen hatten, kaum ausreichte, um ihre Geschäfte mit toxischen amerikanischen Derivaten zu decken. Und ganz gewiss reichte er nicht aus für all das Geld, das sie den Regierungen von Italien, Irland, Portugal, Spanien und Griechenland geliehen hatten – insgesamt 477 Milliarden Euro, von denen happige 102 Milliarden nach Athen geflossen waren. Wenn Griechenland seinen Rückzahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen könnte,3 standen die deutschen Banken vor einem weiteren Verlust, der einen neuen Scheck von Frau Merkel in einer Höhe zwischen 340 und 406 Milliarden Euro erforderlich machen würde. Als erfahrene Politikerin wusste sie, dass es politischer Selbstmord wäre, vom Bundestag noch einmal eine solche Summe zu verlangen.
Für die politisch Verantwortlichen von Frankreich und Deutschland ging es um eine Billion Euro. Sie durften der griechischen Regierung nicht erlauben, die Wahrheit zu sagen, nämlich zuzugeben, dass Griechenland bankrott war. Und sie mussten weiterhin einen Weg finden, um ihre Banken ein zweites Mal zu retten, ohne ihren Parlamenten zu sagen, dass sie genau das taten. Wie Jean-Claude Juncker, damals Premierminister von Luxemburg und später Präsident der Europäischen Kommission, es einmal formuliert hat: »Wenn es ernst wird, müssen Sie lügen.«4
Nach wenigen Wochen stand ihre Flunkergeschichte: Sie würden die zweite Rettung ihrer Banken als Akt der Solidarität mit den verschwenderischen und faulen Griechen hinstellen, die zwar unwürdig und unerträglich waren, aber trotz allem Mitglieder der europäischen Familie, weshalb man sie retten musste. Passenderweise hieß Rettung in dem Fall, sie mit einem weiteren gigantischen Kredit zu versorgen, damit sie ihre französischen und deutschen Gläubiger, die strauchelnden Banken, bezahlen konnten. Die Sache hatte nur einen Haken, für den man erst eine Lösung finden musste: Der Gründungsvertrag der Eurozone verbot die Finanzierung von Staatsschulden durch die EU. Wie konnte die EU diese Klausel umgehen? Das Rätsel wurde mit einem typischen Brüsseler Kuhhandel gelöst, etwas, das die Europäer, insbesondere die Briten, hassen gelernt haben.
Erstens sollten die neuen Kredite nicht europäische Kredite sein, sondern internationale, indem der IWF in den Deal eingebunden würde. Dafür musste der IWF gegen seine heiligste Regel verstoßen: Leihe nie einer bankrotten Regierung Geld, bevor es einen »Haircut« für ihre Schulden gegeben hat, einen Schuldenschnitt. Aber der damalige IWF-Direktor Dominique Strauss-Kahn wollte um jeden Preis die Banken des Landes retten, das er zwei Jahre später zu führen gedachte. Er war bereit, die interne Bürokratie des IWF zu zwingen, ein Auge zuzudrücken. Wenn der IWF mit an Bord war, konnte man den Europäern erzählen, die internationale Gemeinschaft leihe den Griechen Geld, nicht nur die EU, zu dem höheren Zweck, das Weltfinanzsystem zu stützen. Kein Gedanke, dass das eine EU-Rettung für ein EU-Mitglied war und schon gar nicht eine Rettungsaktion für deutsche und französische Banken!
Zweitens würde der größte Teil des Geldes, das Europa aufbringen sollte, nicht von der EU direkt kommen. Die Kredite würden in eine Reihe bilateraler Darlehen verpackt werden – das heißt von Deutschland an Griechenland, von Irland an Griechenland, von Slowenien an Griechenland und so weiter –, und dabei würde jeder bilaterale Kredit die relative wirtschaftliche Stärke des Kreditgebers widerspiegeln, eine seltsame Anwendung von Karl Marx’ Maxime, »jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«. Von jeweils 1000 Euro, die Athen bekommen würde, um sie an die französischen und deutschen Banken weiterzureichen, würde Deutschland für 270 Euro haften, Frankreich für 200 Euro und die kleineren, ärmeren Länder für die restlichen 530 Euro.5 Das war das Schöne an der Griechenlandrettung, zumindest für Frankreich und Deutschland: Sie verteilte den größten Teil der Last, die französischen und deutschen Banken zu retten, auf die Steuerzahler von Ländern, die noch ärmer waren als Griechenland, wie etwa Portugal und die Slowakei. Zusammen mit den ahnungslosen Steuerzahlern der Länder, die den IWF mit finanzierten wie Brasilien und Indonesien, würden sie gezwungen sein, Geld an die Banken in Paris und Frankfurt zu überweisen.
Die Slowaken und die Finnen wussten genauso wenig wie die Deutschen und die Franzosen, dass sie tatsächlich für die Fehler französischer und deutscher Banker bezahlen sollten. Ihnen missfiel der Gedanke sehr, für die Schulden eines anderen Landes geradezustehen. Deshalb säte die französisch-deutsche Achse im Namen der Solidarität mit den unausstehlichen Griechen die Saat der Zwietracht zwischen stolze Völker.
Von der Operation Befreiungsschlag zur Bankrottokratie
Sobald die Rettungskredite in das griechische Finanzministerium hereinschwappten, begann die »Operation Befreiungsschlag«: Das Geld wurde umgehend an die französischen und deutschen Banken zurückgeleitet. Im Oktober 2011 war das Risiko deutscher Banken durch griechische Staatsschulden schon um ordentliche 27,8 Milliarden Euro geringer geworden und betrug nur noch 91,4 Milliarden. Fünf Monate später, im März 2012, lag es bei unter 795 Millionen Euro. Die französischen Banken wurden ihre Risiken noch schneller los: Im September hatten sie sich von griechischen Staatsanleihen im Wert von 63,6 Milliarden Euro befreit, und im Dezember 2012 standen gar keine mehr in ihren Büchern. Die Operation Befreiungsschlag war somit in weniger als zwei Jahren abgeschlossen. Nichts anderes sollte mit der Griechenlandrettung erreicht werden.
Waren Christine Lagarde, Nicolas Sarkozy und Angela Merkel tatsächlich so naiv zu glauben, dass der bankrotte griechische Staat dieses Geld mit Zinsen zurückzahlen würde? Natürlich nicht. Sie sahen die Sache genau als das an, was sie war: ein zynischer Transfer von Verlusten aus den Büchern der französisch-deutschen Banken auf die Schultern der schwächsten Steuerzahler Europas. Und genau das ist der Punkt: Die europäischen Gläubiger, mit denen ich verhandelt habe, legten keinen besonderen Wert darauf, ihr Geld zurückzubekommen, weil es gar nicht ihr Geld war.6
Margaret Thatcher sagte gern, Sozialisten würden unweigerlich ein finanzielles Chaos anrichten, weil ihnen irgendwann das Geld anderer Leute ausgehe.7 Was hätte die Eiserne Lady gedacht, wenn sie gewusst hätte, dass ihr Bonmot so gut auf ihre selbst ernannten Schüler zutreffen