Die ganze Geschichte. Yanis Varoufakis
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Im Januar 2010 warnte ich in einem Radiointerview den Ministerpräsidenten, den ich persönlich kannte und mit dem ich mich gut verstand: »Was immer Sie tun, bitten Sie nicht unsere europäischen Partner um Geld in dem vergeblichen Versuch, unseren Bankrott abzuwenden.« Damals unternahm der griechische Staat natürlich eine übermenschliche Anstrengung, um genau das zu tun. Umgehend brandmarkten mich Regierungsquellen als Verräter – ein Dummkopf, der einfach nicht verstand, dass solche Prognosen selbsterfüllend waren, denn man musste doch das Vertrauen der Märkte in die finanzielle Gesundheit des Staates erhalten, weil nur dann weitere Kredite kamen. Weil ich überzeugt war, dass wir dem Bankrott nicht entgehen konnten, egal, welche beruhigenden Töne wir von uns gaben, machte ich weiter. Die BBC und andere ausländische Medien fanden heraus, dass ich früher Reden für Ministerpräsident Papandreou geschrieben hatte. Es tauchten Schlagzeilen auf wie »Ehemaliger Berater des griechischen Ministerpräsidenten sagt, Griechenland sei bankrott«, die meinen Ruf zementierten, der schlimmste Feind des griechischen Establishments zu sein.
Upton Sinclair hat einmal gesagt: »Es ist schwierig, jemanden dazu zu bringen, dass er etwas versteht, wenn sein Gehalt davon abhängt, dass er es nicht versteht.« In dem Fall hingen Einkommen und Reichtum der herrschenden Klasse in Griechenland davon ab, dass sie nicht von Griechenlands Bankrott überzeugt waren. Wenn jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in dieser und der nächsten Generation die faulen Kredite tragen mussten, damit das Verhältnis der griechischen Oligarchen zu den ausländischen Bankern und Regierungen ungetrübt blieb, dann war es eben so. Kein Hinweis auf die Interessen der restlichen 99 Prozent der Griechen und ihrer Nachkommen hätte sie zu einem Gesinnungswandel bewegen können. Aber je mehr sie ihre Ohren gegenüber Fakten verschlossen, die nicht zu ihren Annahmen passten, desto stärker spürte ich die Pflicht, unser Volk zu warnen: dass die Kredite, die das Establishment in seinem Namen aufnahm und die den Bankrott angeblich verhindern sollten, ihn tatsächlich nur noch schlimmer machen und alle Griechen ins Schuldgefängnis bringen würden. Freunde und Kollegen sagten mir, ich hätte wohl recht, aber es sei politisch unklug, von Bankrott zu reden. Ich bin kein geborener Politiker und antwortete ihnen mit einem Zitat von John Kenneth Galbraith: »Es gibt Zeiten in der Politik, da muss man auf der richtigen Seite stehen und verlieren.« Damals wusste ich nicht, wie prophetisch diese Worte waren.
Und so führte ich meinen einsamen Kampf weiter, um mein Land zu überzeugen, dass es sich bankrott erklären sollte, und um zu verhindern, dass ihm andernfalls das Armenhaus drohte. Im Februar 2010 sagte ich im staatlichen Fernsehen, das Problem mit den immer neuen Krediten sei, dass wie bei der Reise nach Jerusalem die Musik irgendwann aufhören werde. In unserem Fall würden dann die schwächsten Europäer, deren Steuern und Sozialleistungen die Kredite finanzierten, »Genug!« rufen. Wir würden viel ärmer, viel höher verschuldet und bei unseren europäischen Partnern verhasst sein. Im April 2010, einen Monat vor dem Rettungspaket, veröffentlichte ich rasch hintereinander drei Artikel. In dem ersten vom 9. April mit der Überschrift »Sind wir bankrott?« schrieb ich, wenn der Staat weiter so tue, als sei er nicht bankrott, indem er immer neue Kredite aufnahn, drohe uns »der schlimmste Bankrott von Privathaushalten und Unternehmen in unserer Nachkriegsgeschichte«. Aber wenn der Staat den Bankrott eingestehe und sofort in Verhandlungen mit seinen Gläubigern eintrete, könnte man einen Großteil der Last mit denen teilen, die für die Schulden verantwortlich seien: den Banken, die vor 2008 rücksichtslos Kredite vergeben hätten.
Die Antwort des Establishments fiel kurz und unmissverständlich aus: Wenn unsere Regierung um eine Umschuldung bitten sollte, würde Europa uns aus der Eurozone werfen. Meine Erwiderung war ebenso kurz und unmissverständlich: In dem Fall würden das französische und das deutsche Bankensystem explodieren und mit ihnen die ganze Eurozone. Sie würden uns nicht rauswerfen. Und selbst wenn sie es doch täten – was nützte es, in einer Währungsunion zu sein, die die Volkswirtschaften ihrer Mitglieder zerstört? Anders als die Eurogegner, die die Krise als Chance betrachteten, auf den Grexit zu drängen, argumentierte ich, der einzige Weg, nachhaltig in der Eurozone zu bleiben, sei es, die Anweisungen der Institutionen nicht zu befolgen.
Nicht einmal zehn Tage bevor die Rettungsvereinbarung unterschrieben wurde, feuerte ich zwei weitere Schüsse in Richtung der Regierung ab. Am 26. April verglich ich in einem Artikel mit der Überschrift »Europas letzter Tango« die Bemühungen unserer Regierung um eine Rettung mit denen mehrerer aufeinanderfolgender argentinischer Regierungen, die versucht hatten, durch hohe Dollarkredite des IWF die 1:1-Bindung des Peso an den US-Dollar so lange zu erhalten, dass die Reichen und die Unternehmen ihren Besitz in Argentinien liquidieren, die Erlöse in Dollar eintauschen und dann an die Wall Street transferieren konnten – bevor Wirtschaft und Währung kollabierten und die angehäuften Dollarschulden die hilflosen Argentinier unter sich begruben. Zwei Tage später ging ich mit einem weiteren Artikel aufs Ganze. Die Überschrift lautete »Die schönen Seiten des Bankrotts«.
Fünf Tage später wurde der Rettungskredit vereinbart. Der Ministerpräsident wählte eine idyllische griechische Insel als Hintergrund für seine Ansprache an die Nation, pries den Kredit als Griechenlands zweite Chance, Beweis der europäischen Solidarität, Grundlage unserer wirtschaftlichen Erholung, blablabla. Er war sein politisches Ende und unser direkter Weg ins Armenhaus.
Meister der Sparpolitik
Im September 2015, nach dem Ende meiner Amtszeit als Minister, meldete ich mich zum ersten Mal wieder öffentlich zu Wort, in der Sendung Question Time der BBC, die vor Live-Publikum in Cambridge aufgezeichnet wurde. Der Moderator David Dimbleby stellte mich als Europas Vorkämpfer gegen die Sparpolitik vor. Das war eine Einladung an einen Macho aus dem Publikum, mich mit seinen Ideen über den Nutzen der Sparpolitik zu konfrontieren: »Wirtschaft geht eigentlich ganz einfach. Ich habe zehn Pfund in der Tasche. Wenn ich drei Pint Bier in Cambridge kaufe, muss ich mir wahrscheinlich Geld leihen. Wenn ich so weitermache, habe ich irgendwann kein Geld mehr und bin bankrott. Es ist gar nicht schwierig.«
Zu den größten Rätseln des Lebens, zumindest meines Lebens, gehört, wie leicht vernünftige Leute auf diese schreckliche Logik hereinfallen. Die persönlichen Finanzen sind eine absolut ungeeignete Grundlage, um die öffentlichen Finanzen zu verstehen. Das versuchte ich in meiner Antwort zu erklären: »In Ihrem Leben sind Ihre Ausgaben und Ihr Einkommen wunderbar unabhängig voneinander. Wenn Sie Ihre Ausgaben reduzieren, reduziert sich Ihr Einkommen nicht auch. Aber wenn ein Land massiv spart, reduziert sich auch sein Einkommen.«
Der Grund dafür ist, dass auf nationaler Ebene Gesamtausgaben und Gesamteinnahmen genau gleich sind, denn was jemand einnimmt, hat jemand anderer ausgegeben. Wenn jede Einzelperson und jedes Unternehmen in einem Land spart, darf der Staat auf keinen Fall ebenfalls sparen. Würde er auch sparen, würde der abrupte Einbruch bei den Gesamtausgaben zu einem ebenso abrupten Einbruch beim Volkseinkommen führen, was wiederum geringere Steuereinnahmen zur Folge hätte und zu dem spektakulären Ziel der Austeritätspolitik führen würde: einem immer weiter schrumpfenden Volkseinkommen, weshalb die vorhandenen Schulden nicht mehr bedient werden könnten. Deshalb ist Austerität genau die falsche Lösung.
Wenn es eines Beweises bedurft hätte, hat Griechenland ihn geliefert. Das Rettungspaket aus dem Jahr 2010 ruhte auf zwei Säulen: Die eine Säule waren gigantische Kredite